Rz. 57

Das Gesetz enthält in den §§ 2311, 2312 und 2313 BGB nur unvollständige Vorgaben für die Nachlassbewertung.[211] Eine allgemeinverbindliche Wertdefinition existiert nicht.[212] Dessen ungeachtet werden aus dem Kontext der genannten Vorschriften verschiedene Wertungen des Gesetzgebers deutlich, aus denen sich weitere Grundsätze für die Bewertung des Nachlasses zum Zwecke der Pflichtteilsberechnung ableiten lassen.[213]

 

Rz. 58

Nach dem Verständnis sowohl des BVerfG[214] als auch des BGH[215] zielt das Pflichtteilsrecht grundsätzlich darauf ab, den Pflichtteilsberechtigten wirtschaftlich so zu stellen, als wäre er zu einem dem Pflichtteil entsprechenden Bruchteil Erbe geworden. Das Pflichtteilsrecht stellt also einen wirtschaftlichen Ausgleich für die enttäuschte Erberwartung dar, die der Pflichtteilsberechtigte aufgrund der Regelungen der gesetzlichen Erbfolge haben durfte.[216] Daher ist es das Ziel der Bewertung, den vollen, wirklichen Wert der einzelnen Nachlassgegenstände und somit des Nachlasses insgesamt zu ermitteln.[217]

 

Rz. 59

Vom Erblasser getroffene Wertfestsetzungen müssen daher unbeachtlich (§ 2311 Abs. 2 S. 2 BGB) bleiben.[218] Etwas anderes gilt nur nach Maßgabe des § 2312 BGB bei einem Landgut, bei dem der i.d.R. wesentlich niedrigere Ertragswert[219] der Pflichtteilsberechnung zugrunde gelegt werden kann, oder wenn die Voraussetzungen der Pflichtteilsentziehung gegeben wären (§§ 2333 ff. BGB).[220]

 

Rz. 60

Das Bewertungsziel ist der Erbersatzfunktion des Pflichtteilsrechts zu entnehmen:[221] Der Pflichtteil soll den Pflichtteilsberechtigten in Geld so stellen, wie wenn er mit seinem halben gesetzlichen Erbteil am Nachlass beteiligt und dieser im Erbfall in Geld umgesetzt worden wäre.[222] Maßgeblich ist dabei grundsätzlich der gemeine Wert, also der Wert, den ein Nachlassgegenstand für jedermann hat. Das ist in der Regel der Verkaufswert[223] oder Normalverkaufswert.[224] Weicht dieser ausnahmsweise vom wirklichen "wahren" Wert ab, ist Letzterer zugrunde zu legen.[225] Dies bedeutet, dass für die Wertermittlung die Wertverhältnisse im Erbfall, der dann konkret vorhandene Nachlassbestand sowie die realitätsgerechte Ertragsfähigkeit des Nachlasses maßgebend sind.[226]

 

Rz. 61

Mithin scheiden die nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung ermittelten sog. Buchwerte[227] oder die steuerlichen Einheitswerte als Bewertungsgrundlagen aus.[228] Dasselbe gilt aber auch für reine "Liebhaberwerte", die allein auf subjektiven Wertvorstellungen einzelner Personen beruhen.[229] Wenn jedoch die Liebhaberei zur Entwicklung eines eigenen, besonderen Marktes mit objektiv nachprüfbaren Bewertungen (Briefmarken mit Auktions- und Katalogpreisen, Liebhaberaufschläge bei "Oldtimern") führt, handelt es sich dabei um (objektivierte) tatsächliche Marktwerte, die auch der Pflichtteilsberechnung zugrunde zu legen sind.[230]

 

Rz. 62

Der Verkehrswert ist keine feststehende, statische Größe, sondern gerade in der freien Marktwirtschaft von Angebot und Nachfrage abhängig. Er muss aber losgelöst von rein subjektiven Verwendungsentscheidungen des Erben sein. Denn der Wert i.S.d. § 2311 Abs. 2 BGB muss ein objektivierter Wert sein, also ein Wert, den der jeweilige Nachlassgegenstand allgemein in der Hand eines jeden, sozusagen eines "idealen" Erben[231] haben würde.[232] Dieser ist insbesondere dadurch zu charakterisieren, dass er seine wirtschaftlichen Entscheidungen und Bewertungen von rein sachlichen Kriterien abhängig macht und sich nicht von emotionalen Motiven leiten lässt.[233]

 

Rz. 63

Soweit es für die Bewertung von Nachlassgegenständen auf deren weitere Verwendung ankommt, können vor diesem Hintergrund nicht ohne weiteres die tatsächlichen Verwendungsabsichten des (tatsächlichen) Erben zugrunde gelegt werden. Entscheidend muss vielmehr die wirtschaftlich sinnvollste Handlungsalternative aus der Perspektive des idealen Erben sein.

 

Rz. 64

Dies gilt insbesondere auch für die Frage, ob ein Nachlassgegenstand in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Erbfall veräußert werden soll. Praktisch wird diese Entscheidung mitunter auch vom Umfang gegen den Erben gerichteter Pflichtteilsansprüche sowie der ihm zur Verfügung stehenden Liquidität abhängen. Nichtsdestotrotz muss auch hierbei von den realen Gegebenheiten abstrahiert und auf einen typisierten, also idealen Erben abgestellt werden.[234] Grundsätzlich ist dabei wohl zu unterstellen, dass der ideale Erbe außer dem Nachlass kein eigens einzusetzendes Vermögen besitzt. Für diese Sichtweise spricht insbesondere die Ausgestaltung des Pflichtteilsanspruchs als Nachlassverbindlichkeit[235] sowie die in §§ 2059, 2061 ff. BGB gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, die Haftung (auch für den Pflichtteil) auf den Nachlass zu beschränken.[236]

[211] Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 52.
[212] Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 81; Lohr/Prettl, in: Schlitt/Müller, Handbuch Pflichtteilsrecht, § 4 Rn 2.
[213] Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 82; Großfeld, JZ 1981, 641, 643.
[214] BVerfG v. 26.4.1988 – 2...

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