Behindertentestament zu Lasten des Sozialhilfeträgers ist zulässig
Geklagt hatte der Träger der Sozialhilfe gegen eine Erbengemeinschaft. Er machte übergeleitete Pflichtteils- sowie Pflichtteilsergänzungsansprüche des im Jahr 1976 mit einem Down-Syndrom geborenen Sohnes gegenüber die Erbengemeinschaft der im Jahre 2010 verstorbenen Mutter geltend.
Eltern hatten sog. „Behindertentestaments“ errichtet
Die Erbengemeinschaft besteht aus dem noch lebenden Vater sowie den beiden Geschwistern. Im Jahr 2000 hatten die Eltern privatschriftlich ein gemeinschaftliches Testament in Form eines sogenannten „Behindertentestaments“ errichtet.
Typisches Behindertentestament
In dem gemeinschaftlichen Testament setzten sich die Eheleute gegenseitig sowie ihre drei Kinder in der Weise als Erben ein, dass der
- überlebende Ehegatte einen Erbanteil von ein Viertel,
- der durch das Down-Syndrom gehandicapte Sohn einen Anteil in Höhe des 1,1fachen seines Pflichtteils und
- die beiden anderen Geschwister zu gleichen Teilen das verbleibende Vermögen erhalten .
Darüber hinaus ordneten sie hinsichtlich des Erbes des behinderten Sohnes Nacherbschaft durch seine Eltern bzw. seine Geschwister an.
Wichtiges Wesensmerkmal: Testamentsvollstreckung
Für den Erbteil des behinderten Kindes ordneten die Eheleute Testamentsvollstreckung bis zum Eintritt des Nacherbfalls an. Testamentsvollstrecker sollte der längst lebende Ehegatte sein. Darüber hinaus wurde angeordnet:
„Der Testamentsvollstrecker hat dafür zu sorgen, dass das Erbe (des behinderten Kindes) möglichst erhalten bleibt und er in den Genuss der Erträge und gegebenenfalls Vermögenssubstanz kommt, ohne dass ihm andere Zuwendungen und insbesondere staatliche Leistungen verloren gehen. Sollten Zuwendungen des Testamentsvollstreckers gegen dessen Willen insbesondere auf staatliche Leistungen angerechnet werden, so hat er seine Zuwendungen einzustellen. Einen Anspruch auf Herausgabe des Nachlasses sowie von Nachlassgegenständen und Nachlasserträgen hat er (das behinderte Kind) nicht.“
Ziel: Lebenserleichterungen für das behinderte Kind
Mit diesen Verfügungen verfolgten die Eltern - wie es für ein Behindertentestament typisch ist - die Absicht, den Testamentsvollstrecker in die Lage zu versetzen, durch Kauf von Mobiliar und Kleidung, den Erwerb persönlicher Gegenstände, die Finanzierung von Annehmlichkeiten wie Reisen, Musik und Reitunterricht sowie ein erhöhtes Taschengeld das Leben des behinderten Sohnes so komfortabel wie möglich zu gestalten, ohne dass der Sozialhilfeträger Zugriff auf das Vermögen nehmen kann
Träger der Sozialhilfe macht übergeleitete Rechte geltend
Der Kläger hatte als Träger der Sozialhilfe für den in einem Behindertenwohnheim lebenden und in einer Behindertenwerkstatt arbeitenden behinderten Sohn der Eheleute stationäre Eingliederungshilfe und weitere Leistungen erbracht, die sich seit Eintritt des Erbfalls auf ca. 106.000 Euro beliefen. Im Wege der Stufenklage verlangt der Träger nunmehr Auskunft über den Nachlass, über Schenkungen sowie Anstandsschenkungen in den letzten zehn Jahren vor dem Eintritt des Erbfalls.
OLG verneint übergeleitete Pflichtteilsansprüche
Das OLG lehnte Pflichtteilsansprüche des Klägers aus übergeleitetem Recht gemäß § 2303 BGB mit der Begründung ab, dass
- der behinderte Sohn der Eheleute keine Pflichtteilsrechte erworben habe,
- sondern aufgrund des gemeinschaftlichen Testaments vom 17.12.2000 Miterbe an dem Nachlass geworden ist.
Nach Auffassung des Senats ist das gemeinschaftliche Testament nämlich wirksam errichtet worden.
Das Testament sei als typisches Behindertentestament einzuordnen, mit welchem dem schwerbehinderten Kind in der Regel etwas mehr als der rechnerische Pflichtteil hinterlassen und eine Dauertestamentsvollstreckung angeordnet würde.
Mit dem #Behindertentestament solle das #Nachlassvermögen dem #staatlichen #Zugriff entzogen werden.
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Erbteil des Sohnes wirksam staatlichem Zugriff entzogen
Der Zugriff auf die vererbten Vermögenswerte ist dem klagenden Sozialhilfeträger nach Auffassung des Senats versagt, da dieses Vermögen von dem Testamentsvollstrecker verwaltet wird.
- Nach der von den Erblassern wirksam getroffenen Anordnung dürfe der Testamentsvollstrecker dem Sozialhilfeberechtigen von seinem Erbteil nur jeweils soviel zur Finanzierung persönlicher Interessen und Bedürfnisse zu Verfügung stellen, dass ihm andere Zuwendungen wie staatliche Leistungen nicht verloren gehen.
- Außerdem sei eine Nacherbschaft in der Form angeordnet, dass mit Eintritt des Nacherbfalls, also dem Tod des behinderten Sohnes, etwaiges verbleibendes Vermögen auf die Nacherben, sprich die Geschwister und den Vater übergeht.
Behindertentestament ist nicht sittenwidrig
Diese testamentarischen Verfügungen sind nach Auffassung des OLG nicht nach § 138 BGB sittenwidrig, denn:
- Die Erblasser haben ihrem behinderten Kind einen Erbteil hinterlassen, der um 0,1 % über seinem Pflichtteil liegt. Der verfassungsrechtlich garantierte Mindesterbanteil ist daher gesichert
- Das Interesse der Erblasser, für ihr geistig stark gehandicaptes Kind auch zukünftig Annehmlichkeiten und Therapien sicherzustellen, die vom Kläger als Sozialhilfeträger nicht oder nur zum Teil bezahlt werden, ist nach Auffassung des OLG nachvollziehbar und nicht verwerflich.
- Schließlich gehe es auch darum, dem behinderten Kind den Nachlass in möglichst großem Umfange zu erhalten und ihn in den Genuss der Erträge zu bringen, ohne dass ihm andere Zuwendungen und staatliche Leistungen verloren gehen.
- Diese Absicht der Eltern sei auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass die Eltern zum Zeitpunkt der Errichtung des Testaments nicht übersehen konnten, welche Therapiemaßnahmen und sonstigen Hilfeleistungen vom Sozialhilfeträger überhaupt bezahlt würden.
Eltern müssen ihre Sorgen staatlichen Interessen nicht unterordnen
Die Sorgen der Eltern um die Zukunft ihres behinderten Kindes hält der Senat für berechtigt und keineswegs für sittenwidrig.
Eltern seien nicht verpflichtet, ihre sittliche Verantwortung für das weitere Wohl ihres Kindes hinter das Interesse der öffentlichen Hand an einer Deckung ihrer Kosten zu stellen.
Sozialhilferecht enthält kein Verbot eines Behindertentestaments
Entgegen der Auffassung des Klägers sei auch dem Sozialhilferecht ein gesetzliches Verbot einer solchen Testamentsgestaltung nicht zu entnehmen:
- Der Träger der Sozialhilfe hat nach Auffassung des Senats keinen Anspruch darauf, auf das Vermögen eines Hilfeempfängers spätestens bei dessen Tod zugreifen zu können. Einen solchen Anspruch sehe das Gesetz nicht vor. Folglich verstoße auch die Anordnung der Nacherbfolge nicht gegen geltendes Recht.
- Nach Einschätzung des OLG fehlt es im übrigen auch an einer allgemeinen Rechtsüberzeugung, dass Eltern eines behinderten Kindes bei größeren Vermögen diesem einen über den Pflichtteil hinausgehen Erbteil hinterlassen müssten, damit das behinderte Kind später nicht dem der Allgemeinheit zur Last fällt (BGH, Urteil v. 19.1.2011, IV ZR 7/10).
Subsidiaritätsprinzip bindet Erblasser nicht
Eine Sittenwidrigkeit lässt sich nach der Entscheidung des Senats auch nicht mit dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe begründen. Das sozialrechtliche Subsidiaritätsprinzip würde schon im Sozialhilferecht in erheblichem Maße durchbrochen und für die unterschiedlichen Leistungsarten unterschiedlich ausgestaltet.
Nach dem Subsidiaritätsprinzip habe der Sozialhilfeberechtigte nur zugewandte Mittel, die ihm tatsächlich zugeflossen sind, vorrangig vor der gewährten staatlichen Hilfe einzusetzen. Diese Verpflichtung treffe also den Sozialhilfeberechtigten in Person.
Hieraus lasse sich keine Verpflichtung eines Erblassers ableiten, den Sozialhilfeberechtigen in einer Weise zu unterstützen, die den Sozialhilfeträger entlastet.
Lediglich Auskunftsanspruch teilweise begründet
Nur den seitens des Klägers geltend gemachten Anspruch auf Auskunftserteilung über die lebzeitigen Schenkungen des Erblassers hielt das OLG für begründet, da diese Ansprüche auch dem behinderten Sohn als Miterben zustehen und diese Ansprüche daher übergeleitet werden konnten. Insoweit hat der Senat den Rechtstreit zur weiteren Aufklärung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen.
(OLG Hamm, Urteil v. 27.10.2016, 10 U 13/16).
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