Anwälte müssen den sichersten rechtlichen Weg wählen
Die Bearbeitung eines Mandats durch den Anwalt wird immer dann besonders kompliziert, wenn die Beurteilung einer Rechtsfrage in der Rechtsprechung nicht eindeutig geklärt ist und unterschiedliche Rechtsauffassungen der mit der Sache befassten Gerichte denkbar sind. In diesen Fällen gilt das „Gebot des sichersten Weges“, das heißt, der Anwalt muss die Maßnahmen mit dem für seinen Mandanten geringsten rechtlichen Risiko einleiten.
Wechselseitige Zugewinnklagen bei verschiedenen Amtsgerichten
Im konkreten Fall hatte der Kläger seine ehemaligen Anwältinnen auf Regress in Höhe von 86.111,45 EUR verklagt. Die Ausgangslage gestaltete sich so: Eine geschiedene Ehefrau hatte Ihren geschiedenen Ehemann beim AG Mannheim im Rahmen einer Stufenklage auf Zugewinnausgleich in Anspruch genommen. Dieser beauftragte seinerseits die Beklagte zu 1 mit der Geltendmachung von Zugewinn gegenüber seiner Ex-Ehefrau. Die Anwältin erhob darauf für ihren Mandanten eine Zugewinnklage beim AG Delmenhorst.
Zugewinnverfahren einvernehmlich zum Ruhen gebracht
Im Laufe des Verfahrens schlug das AG Delmenhorst den Parteien ein Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des Zugewinnverfahrens in Mannheim vor. Das Verfahren in Delmenhorst wurde darauf im Einverständnis der Parteien zum Ruhen gebracht. Nach Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung durch den Ehemann in dem Mannheimer Verfahren und 8 Monate nach der Anordnung des Ruhens des Verfahrens in Delmenhorst rief die Anwaltskollegin der Beklagten zu 1, die Beklagte zu 2, für den Kläger das Verfahren in Delmenhorst wieder auf. Die Ehefrau des Klägers erhob dort die Einrede der Verjährung.
Zugewinnklage wegen Verjährung abgewiesen
Das AG Delmenhorst wies die Klage auf Zugewinnausgleich ab, mit der Begründung, zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens sei ein möglicher Zugewinnanspruch bereits verjährt gewesen. Die Verjährung sei während des Ruhens des Verfahrens eingetreten. Die im Auftrag des geschiedenen Ehemanns von der Beklagten zu 2 eingelegte Berufung beim OLG blieb ohne Erfolg.
Regressklage gegen Rechtsanwältinnen
Der Kläger nahm daraufhin beide Rechtsanwältinnen auf Schadenersatz in Anspruch. Er vertrat die Auffassung, die von ihm beauftragten Anwältinnen hätten die Gefahr der Verjährung erkennen und das Zugewinnverfahren vor dem AG Delmenhorst zu einem früheren Zeitpunkt wieder aufnehmen müssen. Infolge des Fehlverhaltens der Beklagten habe er seinen Anspruch auf Zugewinn in Höhe von 65.661,43 EUR nicht durchsetzen können. Außerdem seien ihm durch dieses Fehlverhalten Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 20.450,02 EUR entstanden.
Gebot des sichersten Weges sowie Beratungspflichten verletzt
Nach teilweiser Stattgabe der Regressklage in erster Instanz durch das LG und vollständiger Abweisung der Regressklage in zweiter Instanz durch das OLG hatte die Revision des Klägers gegen die klageabweisende Entscheidung des OLG beim BGH Erfolg. Nach Ansicht des Senats hatten die beklagten Rechtsanwältinnen ihre aus dem Anwaltsvertrag resultierenden Verpflichtungen verletzt, denn sie hätten nicht den sichersten Weg zur Geltendmachung der Rechte des Klägers gewählt. Außerdem hätten sie den Kläger hinsichtlich der drohenden Verjährungsgefahr infolge des Ruhens des Verfahrens beim AG Delmenhorst nicht ausreichend beraten.
Die für das Verfahren maßgebliche Verjährungsvorschrift
Der BGH wies in seiner Entscheidung zunächst auf die für die Entscheidung des Zugewinnverfahrens maßgebliche Vorschrift des § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB hin. Danach verliert eine Klage ihre verjährungshemmende Wirkung, wenn sie über einen Zeitraum von 6 Monaten nicht betrieben wird. Die Auslegung dieser Vorschrift war nach Auffassung des Senats entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob einem möglichen Zugewinnanspruch des Klägers rechtswirksam die Einrede der Verjährung entgegengehalten werden konnte oder nicht.
Anwälte müssen BGH-Rechtsprechung immer berücksichtigen
Der BGH räumte ein, dass in der Rechtsprechung unterschiedliche Auffassungen darüber existieren, ob ein im Einvernehmen der Parteien angeordnetes Ruhen des Verfahrens dem Nichtbetreiben des Verfahrens im Rahmen der Verjährungshemmung gleichgestellt ist. Da aber gerade der BGH die Auffassung einer Gleichsetzung in einer Entscheidung bereits vertreten habe (BGH, Urteil v. 29.4.2003, IX ZR 54/02) hätten die Beklagten unter Beachtung dieser BGH-Rechtsprechung und nach dem Gebot des sichersten Weges das Verfahren in Delmenhorst innerhalb der für die Verjährungshemmung maßgeblichen Sechsmonatsfrist weiter betreiben müssen.
Rechtliche Schritte an der negativste Rechtsprechungsvariante ausrichten
Im Ergebnis das Gleiche gilt nach Auffassung des Senats für die Frage des Vorliegens eines triftigen Grundes für das Nichtbetreiben. Liege ein triftiger Grund für das Nichtbetreiben eines Verfahrens vor, so könne die verjährungshemmende Wirkung erhalten bleiben. Ob das Abwarten auf den Ausgang des Parallelverfahrens vor dem AG Mannheim ein triftiger Grund für das Nichtbetreiben des Verfahrens bzw. für die Anordnung des Ruhens des Verfahrens war, war nach Auffassung des Senats aber rechtlich äußerst zweifelhaft. Diese rechtliche Unsicherheit zeige sich bereits daran, dass das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Laufe des anhängigen Verfahrens von den Instanzgerichten unterschiedlich beurteilt worden sei.
Gebot des sichersten Weges zweifach verletzt
Auch in diesem Punkt hätten die Beklagten deshalb das Gebot des sichersten Weges verletzt. Nach diesem Gebot hätten die Beklagten mit einer für ihren Mandanten nachteiligen Rechtsauffassung des Gerichts rechnen und auch unter diesem Gesichtspunkt die Aufnahme des Verfahrens vor dem AG Delmenhorst vor Ablauf der Sechsmonatsfrist veranlassen müssen, um eine Verjährung des Zugewinnausgleichsanspruches des Klägers sicher zu verhindern (BGH, Urteil v. 23.9.2004, IX ZR 137/03).
Mandant muss über mögliche Handlungsalternativen aufgeklärt werden
Schließlich hätten die Beklagten gegenüber dem Kläger ihre Aufklärungspflichten verletzt. Dem Kläger habe das Recht zugestanden, über die Vor- und Nachteile des Ruhens des Verfahrens und die damit verbundene Verjährungsgefahr dezidiert aufgeklärt zu werden. Dabei hätte auch die Option der Vereinbarung eines Verzichts auf die Verjährungseinrede mit der geschiedenen Ehefrau ins Auge gefasst und nach dem Gebot des sichersten Weges gegebenenfalls versucht werden müssen.
Vorinstanz muss erneut entscheiden
Der BGH kam somit zu dem Ergebnis, dass die beiden Anwältinnen im Rahmen des Mandats wesentliche Anwaltspflichten verletzt hatten, die einen Anwaltsregress begründen können. Da die Vorinstanzen eine ganze Reihe der für eine endgültige Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltsfragen noch nicht geklärt hatten, hat der BGH den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung und endgültigen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
(BGH, Urteil v. 19.9.2024, IX ZR 130/23)
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