Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 289
Bestehen Schwierigkeiten, ein erforderliches Beweismittel anzuführen, kann möglicherweise noch eine Beweiserleichterung helfen. Kann eine Partei den ihr obliegenden Beweis nicht führen, erscheint die durch die Beweislastregeln vorgezeichnete Konsequenz des Prozessverlusts häufig unbillig. Der Grund hierfür kann in Besonderheiten des Einzelfalls (etwa dem fehlenden Einblick in die Verhältnisse des Prozessgegners) oder in einer bei manchen Tatbestandsmerkmalen (etwa dem Kausalzusammenhang) typischerweise auftretenden Beweisproblematik liegen.
Rz. 290
Solche Erleichterungen für die beweisbelastete Partei sind u.a. wie folgt möglich:
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Beweiserleichterung durch vertragliche Vereinbarung, |
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Beweis des ersten Anscheins, |
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Indizienbeweis, |
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Rechtsvermutungen, |
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Schadensermittlung, |
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Schadenschätzung. |
a) Vertragliche Vereinbarung
Rz. 291
Die Vertragspartner können eine Beweiserleichterung vereinbaren und einigen sich über:
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die Beweisbedürftigkeit einer Sache, |
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etwaige Beweismittel und/oder |
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die Beweislast bestimmter Tatsachen. |
Rz. 292
Vertragliche Beweiserleichterungen sind grundsätzlich zulässig, z.B. durch AGB. Sie müssen aber rechtswirksam sein. Außerdem dürfen sie nicht in die freie richterliche Beweiswürdigung eingreifen.
b) Beweis des ersten Anscheins
Rz. 293
Der Anscheinsbeweis (prima-facie-Beweis) ist ungeachtet seiner fehlenden dogmatischen Ableitung gewohnheitsrechtlich anerkannt und aus der gerichtlichen Praxis nicht mehr wegzudenken. Es wird auf Erfahrungssätze zurückgegriffen, insbesondere bei typischen Geschehensabläufen.
Rz. 294
Beispiel
Bei einem Verstoß gegen eine Verkehrssicherungspflicht spricht der erste Anschein dafür, dass etwaige Schäden darauf zurückzuführen sind.
Rz. 295
Nach der Rechtsprechung erlaubt der Anscheinsbeweis bei typischen Geschehensabläufen den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens ohne exakte Tatsachengrundlage, sondern aufgrund von Erfahrungssätzen. Die Tatsachen, aus denen nach einem solchen Erfahrungssatz auf eine typischerweise eintretende Folge oder (umgekehrt) eine bestimmte Ursache geschlossen werden kann, müssen entweder unstreitig oder mit Vollbeweis bewiesen sein. Dem Gegner obliegt es dann, den Anschein (z.B. Unachtsamkeit oder zu geringer Abstand bei einem Auffahrunfall) durch den Gegenbeweis zu erschüttern, d.h. der Gegner muss die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs darlegen und diese Tatsachen beweisen.
c) Indizienbeweis
Rz. 296
Für den Indizienbeweis benötigt man Tatsachen, die den Schluss auf das (Nicht-)Vorliegen von Tatbestandsmerkmalen zulassen. Dieser mittelbare Beweis glückt, wenn andere Schlüsse auf Indiztatsachen ernsthaft nicht in Betracht kommen. Dabei kann es sich um körperliche Indizien, Verhaltensweisen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder Motive handeln. Auch der Zeugenbeweis ist ein Indizienbeweis, weil sich die Wahrheit nicht unmittelbar aus der Aussage ergibt, sondern bei ihrer Glaubhaftigkeit aus der Schlussfolgerung, dass sich der Lebenssachverhalt so abgespielt hat, wie von dem Zeugen bekundet.
d) Rechtsvermutungen
Rz. 297
Bei Beweiserleichterungen durch Rechtsvermutungen handelt es sich zunächst um Tatsachenvermutungen, etwa § 938 BGB, welcher die Vermutung des Eigenbesitzes regelt:
Hat jemand eine Sache am Anfang und am Ende eines Zeitraums im Eigenbesitz gehabt, so wird vermutet, dass sein Eigenbesitz auch in der Zwischenzeit bestanden habe.
Rz. 298
Eine Rechtsvermutung enthält z.B. § 1006 Abs. 1 BGB:
Zugunsten des Besitzers einer beweglichen Sache wird vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei. Dies gilt jedoch nicht einem früheren Besitzer gegenüber, dem die Sache gestohlen worden, verlorengegangen oder sonst abhandengekommen ist, es sei denn, dass es sich um Geld oder Inhaberpapiere handelt.
Rz. 299
Eine richterrechtliche Tatsachenvermutung ist beispielsweise, dass die über ein Rechtsgeschäft verfasste Urkunde vollständig und richtig ist. Daher hat auch die Partei, welche ein ihr günstiges Auslegungsergebnis auf Umstände außerhalb der Urkunde stützt, diese zu beweisen.
Rz. 300
Gemäß § 292 S. 1 ZPO ist aber, wenn das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung aufstellt, der Beweis des Gegenteils zulässig. Diesen Beweis muss derjenige erbringen, welcher Rechte aus der Unrichtigkeit der Vermutung ableitet. Wichtig ist, dass der Beweis des Gegenteils erst geboten ist, wenn der Gegner den Hauptbeweis für die Voraussetzungen der gesetzlichen Vermutung erbracht hat. Der Beweis ist mit allen in §§ 371 bis 455 ZPO aufgeführten Beweismitteln zulässig und kann auch mittels eines Antrags auf Parteivernehmung nach § 445 ZPO geführt werden, § 292 S. 2 ZPO. Will eine Partei den Gegenteilsbeweis führen, kommen ihr allgemeine Beweiserleichterungen ebenfalls zugute.
Rz. 301
Allerdings genügt eine bloße Erschütterung der gesetzlichen Vermutung durch Beweis ihrer möglichen Unrichtigkeit nicht. Erforderlich ist der volle Beweis des Gegenteils der gesetzliche...