Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 322
Zur Rechtslage schriftsätzlich auszuführen, ist erstinstanzlich einschränkungslos zu empfehlen, zweitinstanzlich sogar mit Blick auf § 520 Abs. 3 Nr. 3 ZPO als Berufungsangriff erforderlich. Zum einen dient dies der Selbstkontrolle: Folgt aus den vorgetragenen Tatsachen tatsächlich der geltend gemachte Anspruch? Zum anderen dürften Rechtsausführungen dem eigenen Anspruch an die Qualität der anwaltlichen Tätigkeit entsprechen, welche auch der Mandant erwarten kann. Ferner wird dem rechtlichen Gehör vor Gericht Vorschub geleistet, zumal der Tatsachenvortrag leichter verständlich ist, wenn deutlich wird, worauf die Partei mit ihren Behauptungen hinaus will.
Rz. 323
Zuletzt entspricht eine rechtliche Subsumtion den Anforderungen, welche der BGH an die Anwaltschaft stellt. Die Verpflichtung des Rechtsanwalts, die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, wird auch durch den Grundsatz "iura novit curia" nicht eingeschränkt. Der Verpflichtung, "das Rechtsdickicht zu lichten", ist der Rechtsanwalt folglich nicht wegen der dem Gericht obliegenden Rechtsprüfung enthoben.
Rz. 324
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist der Rechtsanwalt über den Tatsachenvortrag hinaus verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, das Gericht davon zu überzeugen, dass und warum seine Rechtsauffassung richtig ist. Daher muss der Rechtsanwalt alles – einschließlich der Rechtsausführungen – vorbringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann. Ein Anwalt verletzt seine Pflichten aus dem Anwaltsvertrag aber dann nicht schuldhaft, wenn sich bei einer offenen Rechtsfrage, deren Lösung nicht unmittelbar aus dem Gesetz folgt und die bisher auch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen Rechtsprechung war und zu der auch keine einschlägige instanzgerichtliche Rechtsprechung oder Literatur existiert, für einen von mehreren Lösungswegen entscheidet.
Rz. 325
Kann die Klage auf verschiedene rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, ist der Sachvortrag so zu gestalten, dass alle in Betracht kommenden Gründe im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten konkret dargelegt werden, denn der Rechtsanwalt ist nicht verpflichtet, eine "kreative Rechtsfortbildung vorauszuahnen".
Rz. 326
Hat der Rechtsanwalt diese ihm obliegende Aufgabe nicht sachgerecht erledigt und somit zusätzliche tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hervorgerufen, sind nach der Rechtsprechung des BGH die dadurch ausgelösten Wirkungen ihm grundsätzlich zuzurechnen. Deshalb soll der Rechtsanwalt auch für die Folgen eines gerichtlichen Fehlers haften, sofern dieser auf Problemen beruht, die der Anwalt durch eine Pflichtverletzung erst geschaffen hat oder bei vertragsgemäßem Arbeiten hätte vermeiden müssen. Etwaige Versäumnisse des Gerichts sollen die Mitverantwortung des Rechtsanwalts für eigenes Versehen grundsätzlich nicht ausschließen.
Rz. 327
Instruktiv dazu aus der Rechtsprechung des BGH zum Sachvortrag und zu Anspruchsgrundlagen:
Zitat
"Ein wilder Rundumschlag durch die Vielzahl denkbarer Anspruchsgrundlagen […] ohne Blick auf Rechtsfolge und Klageziel nach dem Motto, das Gericht möge sich aus diesem Dickicht benannter Normen und Rechtsfolgen nebst diffusem Tatsachenvortrag das zu den Tatbestandsvoraussetzungen Passende herauspflücken, ist riskant. [...] Einer Prozesstaktik der Einschüchterung der Anspruchsgegner […] durch sehr hohe Forderungen und Angriffe mit breiter unkontrollierter Streuung sollte prozessual kein Vorschub geleistet werden."
Rz. 328
Deshalb handelt es sich also nicht lediglich um eine Geschmacksfrage, ob Ausführungen zur Rechtslage gemacht werden, sondern um eine potenzielle Gefahrenlage. Solche Darlegungen sollten in der Klage, der Klageerwiderung, der Berufung und der Berufungserwiderung oder anderen essenziellen Schriftsätzen nicht fehlen.