Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 189
Liegt das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen vor, muss der Richter das Gutachten zunächst durcharbeiten. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Gutachten das Beweisergebnis nicht beantwortet, muss er von Amts wegen auf eine Vervollständigung des Gutachtens hinwirken. Liegt das fertige Gutachten vor, wird in aller Regel zumindest eine der streitenden Parteien damit nicht einverstanden sein. Häufig wird dann der Antrag auf Einholung eines Gegengutachtens oder Obergutachtens gestellt, § 412 ZPO.
Ein solcher Antrag ist nur dann begründet, wenn
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die Sachkunde des bisherigen Gutachters zweifelhaft ist und der Richter keine eigene besitzt, |
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das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, |
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Widersprüche enthält |
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oder ein anderer Sachverständiger über bessere Erkenntnismöglichkeiten, etwa neuere Forschungsmittel oder überlegene Sachkunde, verfügt. |
Einem Antrag auf Einholung eines Obergutachtens wird das Gericht aber zumeist erst dann entsprechen, wenn es das Gutachten für völlig unbrauchbar hält. In diesem Fall muss das Gericht einen zweiten Gutachter beauftragen.
Ansonsten wird es das Gutachten nach Möglichkeit durch einen Auftrag zur Ergänzung oder durch Anhörung des Sachverständigen zu retten suchen. Inhaltlichen Unklarheiten im Sachverständigengutachten müssen im Wege gezielter Befragung des Sachverständigen durch das Gericht geklärt werden. Denn holt das Gericht ein weiteres Gutachten ein und kommt der neue Sachverständige zu einem abweichenden Ergebnis, bringt es sich in die schwierige Lage, entscheiden zu müssen, welchem Gutachten zu folgen ist.
Besser ist es deshalb, die Anhörung des Sachverständigen zu beantragen. Die Anhörung des Sachverständigen kommt von Amts wegen gem. § 411 Abs. 3 ZPO oder auf Antrag nach dem Grundsatz der Gewährleistung rechtlichen Gehörs aus §§ 397, 402 ZPO einer Partei in Betracht.
Rz. 190
Die Prozessparteien haben gemäß §§ 402, 397 ZPO einen Anspruch darauf, dem Sachverständigen in einem Anhörungstermin zu seinem Gutachten Fragen zu stellen.
BGH NJW-RR 2017, 1144:
Zitat
Für die Frage, ob die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des von ihm erstatteten Gutachtens geboten ist, kommt es nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sieht oder ob ein solcher von einer Partei nachvollziehbar dargetan worden ist. Jede Partei hat einen Anspruch darauf, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann (§§ 397, 402 ZPO).
Der Antrag muss aber rechtzeitig vor dem nächsten auf die Vorlage des Gutachtens folgenden Termin gestellt werden. Ein erst in der Berufungsinstanz gestellter Antrag auf Anhörung des Sachverständigen zu seinem in erster Instanz erstatteten Gutachten ist deshalb in der Regel verspätet.
Aber BGH VersR 2006, 950:
Zitat
Hat das LG einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung nicht entsprochen, so muss das Berufungsgericht dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag stattgeben.
Die Partei braucht in ihrem Antrag auf Anhörung zwar nicht darzulegen, welche Fragen sie dem Gutachter vorlegen will; allerdings muss aus dem Antrag hervorgehen, in welche Richtung die beabsichtigten Fragen gehen. Ob aus der Entscheidung des BGH vom 21.2.2017 folgt, dass eine Begründung des Antrags auf mündliche Erläuterung des Gutachtens insgesamt entbehrlich ist, bleibt abzuwarten. Sicherer dürfte es stets sein, jedenfalls zu skizzieren, in welche Richtung die Fragen gehen sollen, dies schon um den Einwand der Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrags die Grundlage zu nehmen.
Das Gericht darf den Antrag auf Befragung des Sachverständigen nur bei Rechtsmissbräuchlichkeit ablehnen oder wenn es ausschließen kann, dass die Anhörung zu einer anderen Beurteilung des Rechtsstreits führen könnte. Der sicherste Weg dürfte es allerdings auch im letzten Fall sein, die Befragung zuzulassen. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass in der Entscheidung des BGH vom 21.2.2017 nur noch davon gesprochen wird, dass die Anhörung bei Rechtsmissbräuchlichkeit unterbleiben kann.
BGH MDR 1997, 286:
Zitat
Das Gericht muss dem von einer Partei rechtzeitig gestellten Antrag, den gerichtlichen Sachverständigen nach Erstattung eines schriftlichen Gutachtens zu dessen mündlicher Erläuterung zu laden, auch dann stattgeben, wenn die schriftliche Begutachtung aus seiner Sicht ausreichend und überzeugend ist.
Unrichtig deshalb OLG Oldenburg VersR 1998, 636, das einen Antrag auf Anhörung des Sachverständigen mit der Begründung abgelehnt hat, es bestehe kein Erläuterungsbedarf bzw. dieser sei nicht nachvollziehbar geltend gemacht worden.
BVerfG NJW-RR 1996, 183, 184:
Zitat
Abgelehnt werden kann der Antrag einer Partei prozessordnungsgemäß nur dann, wenn er missbräuchlich gestellt worden ist. Dies ist nicht bereits dann der Fall, wenn das schriftliche Gutachten dem ...