Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 92
Nach der Rspr. des BGH – unter Aufgabe früherer Rspr. – besteht nur ein Anscheinsbeweis und keine Beweislastumkehr dafür, dass ein Geschädigter bei geschuldeter Aufklärung sich "aufklärungsrichtig" verhalten hätte, wenn die nicht erteilte Aufklärung von Angehörigen rechtsberatender Berufe geschuldet wurde; im Übrigen hält die Rspr. jedoch bei der Verletzung der Aufklärungspflicht an der Beweislastumkehr fest.
BGH NJW 2000, 2110, 2111 (zur Notarhaftung):
Zitat
Nach allgemeiner Lebenserfahrung kann der Beweis des ersten Anscheins für ein beratungsgemäßes Verhalten der Urkundsbeteiligten sprechen […]. Das gilt grundsätzlich auch bei Verträgen zwischen Familienangehörigen. Die Vermutung ist erschüttert, wenn tatsächliche Umstände festgestellt sind, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit ergibt, dass die Vertragsteile sich bei Vereinbarung der konkret nachteiligen Klausel wesentlich von verwandtschaftlichen Rücksichtnahmen haben leiten lassen […].
Vgl. auch BGH r+s 2023, 770:
Zitat
Schuldet ein Notar einen bestimmten Rat, Hinweis oder eine bestimmte Warnung, so spricht der erste Anschein dafür, dass die Beteiligten dem gefolgt wären. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass bei ordnungsgemäßem Verhalten nach der Lebenserfahrung lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte oder sämtliche vernünftigen Verhaltensmöglichkeiten identische Schadensbilder ergeben hätten.
Rz. 93
Der Anscheinbeweis bei Aufklärungspflichtverletzungen findet allerdings immer dann keine Anwendung, wenn nicht nur eine einzige Handlungsoption besteht, sondern verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht kommen.
BGH r+s 2023, 770:
Zitat
Besteht dagegen nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit, sondern kommen verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht und bergen sämtliche gewisse Risiken in sich, ist für einen Anscheinsbeweis kein Raum.
Genauso gelten die Regeln des Anscheinsbeweises nicht im folgenden Anwaltshaftungsfall:
BGH NJW-RR 1999, 641, 642:
Zitat
Die Regeln des Anscheinsbeweises sind dagegen unanwendbar, wenn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten verschiedene Entscheidungen ernsthaft in Betracht kommen und die Aufgabe des Beraters lediglich darin besteht, dem Mandanten durch die erforderlichen fachlichen Informationen eine sachgerechte Entscheidung zu ermöglichen.
Und BGH NJW 2000, 2814, 2815:
Zitat
[D]er Erfahrungssatz des beratungsgemäßen Verhaltens [kommt] nur dann in Betracht […], wenn ein bestimmter Rat geschuldet war und es in der gegebenen Situation unvernünftig gewesen wäre, diesen Rat nicht zu befolgen (BGH NJW-RR 1999, 641).
[…] Bei einem Schadensersatzanspruch aus Vertragsverletzung gehört der Ursachenzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem Eintritt eines daraus erwachsenen allgemeinen Vermögensschadens nach der Rechtsprechung des BGH nicht mehr zur haftungsbegründenden, sondern zur sogenannten haftungsausfüllenden Kausalität.
Behauptet der Anwalt, sein Mandant habe die Rechtslage gekannt und sei deshalb gar nicht belehrungsbedürftig gewesen, trifft den Anwalt insoweit die Beweislast.