Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 149
Ob das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen zum selben Beweisthema erneut vernimmt, hängt letztlich davon ab, ob das Berufungsgericht Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachenfeststellungen hat und auf welche Art und Weise das Berufungsgericht die Aussage des Zeugen bewerten will.
BGH NZM 2015, 944:
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Hegt das Berufungsgericht Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachenfeststellungen, die sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertungen ergeben können, so sind nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erneute Feststellungen geboten. Im Zuge dieser erneuten Tatsachenfeststellung muss das Berufungsgericht einen in erster Instanz vernommenen Zeugen gem. § 398 ZPO grundsätzlich nochmals vernehmen, wenn es seiner Aussage eine andere Tragweite oder ein anderes Gewicht als das erstinstanzliche Gericht beimessen möchte. Unterlässt es dies, so verletzt es den Anspruch der benachteiligten Partei auf rechtliches Gehör. Die erneute Vernehmung eines Zeugen darf unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen, d.h. seine Glaubwürdigkeit, noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage, d.h. die Glaubhaftigkeit, betreffen und es die Zeugenaussage deshalb ohne Verstoß gegen das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung bewerten kann, weil es keines persönlichen Eindrucks von dem Zeugen bedarf.
Dies ist präzisiert worden durch BGH BeckRS 2018, 30995:
Zitat
Hat das erstinstanzliche Gericht zu streitigen Äußerungen und den Umständen, unter denen sie abgegeben worden sind, Zeugen vernommen und ist es aufgrund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, so kann das Berufungsgericht diese Auslegung nicht ohne Weiteres verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO selbst vernommen zu haben.
Vgl. auch BGH NJW 2000, 1199:
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Stützt das erstinstanzliche Gericht eine Feststellung auf die Aussagen mehrerer Zeugen, darf das Berufungsgericht eine hiervon abweichende Feststellung nicht mit der erneuten Vernehmung nur eines dieser Zeugen begründen.
Man beachte in diesem Zusammenhang auch BGH NJW 2014, 550:
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Sieht das Berufungsgericht eine von dem Gericht des ersten Rechtszugs getroffene entscheidungserhebliche Tatsachenfeststellung als verfahrensfehlerhaft an, weil die Vernehmung eines Zeugen unterblieben ist, so entfällt die Bindung an die Feststellung, und das Berufungsgericht hat nicht nur den Zeugen zu vernehmen, sondern alle erhobenen Beweise insgesamt selbst zu würdigen.
Aber BGH MDR 1997, 876:
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Wird ein in erster Instanz gestellter Beweisantrag im Berufungsrechtszug nicht wiederholt, obwohl ihm dort erst seine eigentliche Bedeutung zukommt, und sind keine Umstände dafür zu erkennen, dass die Partei auf ihm bewusst nicht mehr zurückgreifen will, so hat das Gericht gemäß § 139 Abs. 1 ZPO nachzufragen, bevor es den Antrag für nicht mehr gestellt erachtet.
Die Vorschrift des § 139 Abs. 1 ZPO dient der Verwirklichung des sachlichen Rechts. Sie begründet für das Gericht u.a. die Pflicht darauf hinzuwirken, dass die Parteien ihre Beweismittel bezeichnen. Dadurch soll insbesondere verhindert werden, dass eine Partei, die Beweismittel beibringen kann und will, dies aufgrund eines bloßen Versehens unterlässt.
Rz. 150
Die besondere Bedeutung einer Aussage zwingt nicht zu erneuter Vernehmung. Die mitunter in der Literatur vertretene, auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit gestützte, abweichende Auffassung berücksichtigt nicht in gebührendem Maße, dass das Erinnerungsvermögen des Zeugen durch den weiteren Zeitablauf noch mehr eingeschränkt ist und ein nicht wahrheitsliebender Zeuge, dem es in erster Instanz nicht gelungen ist, der von ihm begünstigten Partei zum Prozesssieg zu verhelfen, aufgrund des erstinstanzlichen Urteils nunmehr weiß, wie seine Aussage ausfallen muss, um die Entscheidung zu beeinflussen. Eine Beweisaufnahme ist ein einmaliger, nicht wiederholbarer Vorgang. Es muss alles daran gesetzt werden, dass sie im ersten Anlauf gelingt. Gericht, Anwalt und Partei müssen ihr Bestes geben, dass sie – gemessen an ihren allerdings unterschiedlichen Interessen – auf Anhieb zum Erfolg führt. Eine misslungene Beweisaufnahme ist zumeist nicht mehr zu reparieren. Die erneute Vernehmung eines Zeugen ist der Wahrheitsfindung häufig eher hinderlich als dienlich.
Rz. 151
Muss eine Partei befürchten, dass sich dem Berufungsgericht die Mangelhaftigkeit der erstinstanzlichen Beweiserhebung und/oder -würdigung nicht bereits aus dem Protokoll oder den Urteilsgründen erschließt, müssen schon in der ersten Instanz die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, eine erneute Vernehmung in der Berufungsinstanz zu erzwingen.
Die Partei kann beantragen und hat einen Anspruch darauf, § 160 Abs. 3 Nr. 2 ZPO, dass der erstinstanzliche Richter, der ihre Fragen nicht zulassen wi...