Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 171
Eine Besonderheit zeichnet sich aber in Gefolgschaft der Entscheidung des BGH NJW 1999, 363 für das sogenannte "Vieraugengespräch" ab.
Hartmann hält zwar nicht eine Uminterpretation des § 448 ZPO für erforderlich, folgt BGH NJW 1999, 363 aber darin, dass es im Falle eines "Vieraugengesprächs" aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit geboten sein kann, den Gegner einer Partei, die im Unterschied zu dieser keinen Zeugen hat, von Amts wegen zu vernehmen. Bereits Schlosser hatte sich für eine entsprechende Interpretation des § 448 ZPO im Lichte des Grundsatzes der Waffengleichheit im Falle eines Vieraugengesprächs ausgesprochen (vgl. Rdn 169).
Abgesehen von dem Fall des Vieraugengesprächs halten aber auch diese Autoren daran fest, dass es nicht im Belieben des Gerichts steht, eine Parteivernehmung durchzuführen. Und die Regeln der Parteivernehmung dürfen auch nicht dadurch unterlaufen werden, dass eine Parteianhörung wie eine Parteivernehmung behandelt wird.
Für den Fall des Vieraugengesprächs hält es der BGH zur Herstellung der Waffengleichheit für geboten, dass entweder eine Partei, die in Beweisnot ist, von Amts wegen vernommen wird, oder aber ihre Anhörung nach § 141 ZPO erfolgt. Vgl. dazu Rdn 94 ff.
BGH NJW-RR 2006, 61:
Zitat
Erfordert der Grundsatz der Waffengleichheit, dass der Partei, die für ein Gespräch keinen Zeugen hat, Gelegenheit gegeben wird, ihre Darstellung des Gesprächs persönlich in den Prozess einzubringen, kann nicht sowohl die Vernehmung der Partei gem. § 448 ZPO als auch ihre Anhörung gem. § 141 ZPO von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für ihr Vorbringen abhängig gemacht werden.
BAG NJW 2007, 2427:
Zitat
Hat ein Gespräch allein zwischen den Parteien stattgefunden, kann die für den Inhalt des Gesprächs beweisbelastete Partei Beweis antreten, indem sie ihre eigene Anhörung oder Vernehmung beantragt.
Insoweit kann von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden; ausgelöst durch die Entscheidung des EGMR. Es mag dahinstehen, ob dieser von der Sache her geboten war.
Rz. 172
Über das Vieraugengespräch hinaus wollen manche Autoren schlechthin darauf verzichten, die Anfangswahrscheinlichkeit zur Bedingung einer Vernehmung nach § 448 ZPO zu machen.
Gehrlein und ihm folgend Leipold sind der Ansicht, dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 448 ZPO dazu zwingt, auf das Erfordernis der Anfangswahrscheinlichkeit als Voraussetzung für die Vernehmung einer Partei zu ihrem eigenen Vorbringen zu verzichten. Aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch einer Partei auf effektiven Rechtsschutz sei auch ein Recht der Partei auf Beweis und damit grundsätzlich auf Nutzung aller Beweismittel zu entnehmen.
Stein/Jonas/Leipold, § 448 Rn 22:
Zitat
Jedenfalls dann, wenn eine Partei über kein anderes Beweismittel in ihrem Lager verfügt als über ihre eigene Vernehmung, ergibt sich auf diese Weise eine Pflicht des Gerichts, die beantragte Vernehmung anzuordnen, ohne dass eine Anfangswahrscheinlichkeit verlangt werden darf. Dies muss auch dann gelten, wenn die beweispflichtige Partei für ihre Behauptung Zeugenbeweis anbieten konnte, der Gegner aber abgesehen von der eigenen Vernehmung über keine Beweismittel zur Erschütterung des Beweises verfügt. In dieser Situation kann aus verfassungsrechtlichen Gründen auch nicht an dem Grundsatz der Subsidiarität der Parteivernehmung i.S.d. § 445 Abs. 2 ZPO festgehalten werden.