Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 205
Das Gesetz kennt in BGB und ZPO sowohl Tatsachenvermutungen wie auch Rechtsvermutungen.
Darüber hinaus sind von der Rspr. sogenannte tatsächliche Vermutungen entwickelt worden.
Aus diesem Bereich soll – wegen ihrer großen praktischen Bedeutung – die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit von Vertragsurkunden dargestellt werden.
Nach § 416 ZPO beweist eine Privaturkunde nur, dass die in ihr enthaltene Erklärung von dem Aussteller abgegeben wurde. Steht die Echtheit der Unterschrift fest, wird darüber hinaus gemäß § 440 Abs. 2 ZPO vermutet, dass die über der Unterschrift stehende Schrift auch echt ist.
Die Richtigkeit der in der Urkunde enthaltenen Erklärung beweist sie hingegen nicht.
Die Rspr. hat jedoch, gestützt auf die allgemeine Lebenserfahrung, den Satz von "der Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit der über ein Rechtsgeschäft aufgenommenen Urkunde" entwickelt:
Zitat
Die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit der über ein Rechtsgeschäft aufgenommenen Urkunde wirkt sich bei der Auslegung des Vereinbarten dahin aus, dass die Partei, die ein ihr günstiges Auslegungsergebnis auf Umstände außerhalb der Urkunde stützt, dieses zu beweisen hat […].
Wird z.B. ein Grundstückskaufvertrag notariell beurkundet und enthält dieser keine Angaben zur Grundstücksgröße, spricht die Vermutung dafür, dass insoweit auch keine Zusicherungen gemacht worden sind. Das Schweigen des Urkundentextes begründet die Vermutung gegen eine Zusicherung. Wer Gegenteiliges behauptet, muss es also beweisen; es reicht nicht, die Vermutung nur zu erschüttern.
Seiner dogmatischen Einordnung nach handelt es sich bei der Vermutung um einen Erfahrungssatz, der der freien Beweiswürdigung zuzurechnen ist. In der praktischen Anwendung wird die Vermutung aber – ebenso wie der Anscheinsbeweis, vgl. Rdn 54 ff. – wie eine Beweisregel gehandhabt.
Rz. 206
"Mündliche Nebenabreden gelten nicht."
Besondere Bedeutung kommt der Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit bei Angriffen gegen die Richtigkeit des Inhaltes von Vertragsurkunden zu. Nicht selten macht ein Vertragspartner nach Abschluss des Vertrages geltend, die Urkunde gebe den gewollten Inhalt der Vereinbarung unrichtig wieder oder sei unvollständig. Es wird etwa behauptet, es sei ein vom Vertragsinhalt abweichender Preis vereinbart worden oder der Verkäufer habe besondere Zusicherungen gemacht, die in der Vertragsurkunde keinen Niederschlag gefunden hätten. Selbst wenn, was häufig der Fall ist, die vom Verkäufer verwandten AGB vorsehen: "mündliche Nebenabreden gelten nicht", kann die behauptete Nebenabrede nicht ohne Weiteres ignoriert werden. Zwar stehen §§ 307, 309 Nr. 12 BGB einer solchen Vertragsklausel nicht entgegen, weil sie nur etwas festschreibt, was ohnehin gilt, nämlich die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit. Da aber in der Klausel "mündliche Nebenabreden sind nicht getroffen" keine Schriftformvereinbarung nach § 127 BGB liegt, bleibt es einer Partei unbenommen, sich auf eine vom Vertragstext abweichende mündliche Nebenabrede zu berufen.
Rz. 207
Auch die Klausel der Allgemeinen Geschäftsbedingung des Anwenders kann den Vertragspartner nicht daran hindern, sich darauf zu berufen, es sei vom schriftlichen Vertragstext Abweichendes vereinbart worden. Denn gemäß § 305b BGB hat die Individualabrede Vorrang vor den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Außerdem wäre es ein in sich widersprüchliches Verhalten, einerseits Nebenabreden auszuschließen, sie aber dann doch zu treffen.
Wer aber eine vom Vertragstext abweichende mündliche Nebenabrede behauptet, muss sie beweisen.
Und es bedarf sehr substantiierter Darlegungen, um mit einer vom Vertragstext abweichenden Behauptung zur Beweiserhebung überhaupt zugelassen zu werden.
OLG Köln WM 1976, 362:
Zitat
Derjenige, der sich darauf beruft, eine Schriftformklausel sei abbedungen, hat substantiierte Darlegungen dahin gehend vorzutragen und unter Beweis zu stellen, dass nicht nur abweichende Gespräche geführt worden sind, sondern dass es der übereinstimmende Wille der Parteien gewesen ist, die ihnen bekannte Schriftformklausel teilweise außer Kraft zu setzen.
[...] Es bestehen keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte dafür […], dass die Klägerin, ein großes Unternehmen, zwar ihre Mietverträge streng der Schriftform unterwirft, sich im Einzelfall gleichwohl zu entscheidenden vertragsändernden, mündlichen Sondervereinbarungen bereit erklärt. Dahingehende Darlegungen sind im Streitfall insbesondere deshalb zu erwarten, weil weniger bedeutsame Vertragsänderungen in einer Zusatzvereinbarung schriftlich fixiert worden sind. Die vom Beklagten aufgestellte bloße Behauptung, neben dem schriftlich abgefassten Hauptvertrag und den schriftlich fixierten Abänderungen dieses Vertrages sei weiterhin eine mündliche Verkürzung der Vertragsdauer vereinbart worden, ist angesichts dessen bereits aus Rechtsgründen ungeeignet, die umfassende Gültigkeit der Schriftformklausel auszuräumen. Eine Beweisaufnahme über diese Be...