Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 42
Etwas anderes gilt auch im Fall der sogenannten Rentenneurose, bei der der Unfall unbewusst zum Anlass genommen wird, sich den Belastungen des Erwerbslebens zu entziehen. Hier führt die psychische Fehlleistung der Unfallverarbeitung dazu, dass der Unfall (wenn auch unbewusst!) zum Anlass genommen wird, in körperliche Beschwerden zu flüchten. Der Unterschied zu der eine Schadensersatzpflicht auslösenden Neurose liegt darin, dass in diesen Fällen das Schadensereignis nur einen zufälligen, seinem Wesen nach auswechselbaren Kristallisationspunkt für die Kompensation innerer Konflikte bildet.
Aufgrund seiner besonderen Persönlichkeitsstruktur kompensiert der Geschädigte anlässlich des Unfalls latente innere Konflikte und flüchtet in eine Neurose, die keinen Bezug mehr zu dem Unfallgeschehen aufweist. In einem solchen Fall sind die psychischen Beeinträchtigungen nur rein zufällig durch das Unfallgeschehen ausgelöst worden, hätten in gleicher Weise auch aus womöglich geringfügigen anderen Anlässen eintreten können und gehören deshalb zum allgemeinen Lebensrisiko des Verletzten, das dieser entschädigungslos zu tragen hat. In diesen Fällen wird also ein Schadensersatzanspruch mit der Begründung versagt, in den Gesundheitsschäden aus Anlass des Unfalls aktualisiere sich lediglich das außerhalb des Schutzbereichs der verletzten Norm liegende allgemeine Lebensrisiko.
Rz. 43
Da es nun außerordentlich schwierig ist festzustellen, ob die Neurose lediglich eine (wenn auch unbewusste) Flucht in die Krankheit darstellt oder nicht, wäre der ganze Begründungsaufwand müßig, wenn Zweifel zulasten des Geschädigten gingen. Die Beweislast für die Behauptung, bei der unfallbedingten Neurose handele es sich um eine nicht entschädigungspflichtige Rentenneurose, trägt aber der Schädiger.
BGH NZV 2003, 328:
Zitat
Die Beweislast dafür, dass die Unfallfolgen in keinem inneren Zusammenhang stehen, sondern sich durch den Unfall letztlich nur das allgemeine Lebensrisiko des Geschädigten verwirklicht hat, trägt der Schädiger.
Wie jeder Geschädigte ist auch der unfallbedingt psychisch Erkrankte gemäß § 254 Abs. 2 BGB generell gehalten, den Schaden abzuwenden oder zu mindern; etwa indem er sich einer therapeutischen Behandlung unterzieht.
Aber OLG Hamm VersR 1997, 374:
Zitat
Den Verletzten trifft kein Mitverschulden, wenn er eine Psychotherapie verweigert, weil er wegen seiner psychischen und intellektuellen Anlage die Notwendigkeit einer Therapie nicht erkennt.
Auf die Zumutbarkeit der einer therapeutischen Behandlung abstellend, BGH NJW 2015, 2246, 2247:
Zitat
Der Umstand, dass die Klägerin sich nach den getroffenen Feststellungen mit Rücksicht auf die mit einer Behandlung verbundene Trennung von ihren Kindern nicht weiter therapieren ließ, könnte ein Mitverschulden begründen, wenn der Klägerin eine weitere Behandlung der Essstörung zumutbar gewesen wäre.
Rz. 44
Kein Schadensersatzanspruch kann einem Geschädigten aus einem sog. Bagatellereignis erwachsen; allerdings werden strenge Anforderungen an die Annahme gestellt, dass nur ein Bagatellereignis gegeben ist.
Zunächst einmal kommt es auf die durch den Unfall erlittene Primärverletzung an. Diese ist als Bagatellereignis zu werten, wenn sich die Beeinträchtigung im Rahmen dessen hält, woran man sich schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen gewöhnt hat und häufiger vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt ist.
Wie oben, Rdn 40, bereits ausgeführt steht dem Anspruch des Verletzten nicht entgegen, dass der Unfall nur deshalb zu einer psychischen Störung hat führen können, weil der Verletzte eine negative psychische Veranlagung hat. Wohl aber hat der BGH entsprechend seiner Rspr. zum Schmerzensgeld es im Rahmen der Billigkeit für geboten erachtet, u.U. eine Reduzierung des Schmerzensgeldes, aber auch einen prozentualen Abschlag von seinem Verdienstausfall vorzunehmen.
Der Tatrichter soll bei psychischen Vorschäden durch ein Gutachten klären lassen, ob die Erwerbsunfähigkeit auch ohne Unfall (früher oder später) eingetreten wäre.
BGH JZ 1998, 680 m. Anm. Schiemann:
Zitat
Beruht die vom Geschädigten geltend gemachte Erwerbsunfähigkeit auf einer psychischen Fehlverarbeitung des Schadensereignisses, so kann es der Tatrichter für Dauer und Höhe eines etwa in Betracht kommenden Verdienstausfallschadens berücksichtigen, wenn eine Prognose mit einer für § 287 ZPO ausreichenden Wahrscheinlichkeit ernsthafte Risiken für die Entwicklung der Berufslaufbahn des Geschädigten aufgrund seiner vorgegebenen psychischen Struktur ergibt.
Die Darlegungs- und Beweislast für diesen Einwand der "überholenden Kausalität" liegt dann beim Schädiger.