Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 48
Der Anscheins- oder prima-facie-Beweis ist gesetzlich nicht geregelt, sondern eine Schöpfung der Rechtsprechung und mittlerweile (gewohnheitsrechtlich) anerkannt. Der Anscheinsbeweis ermöglicht es, vom Vorliegen eines schuldhaften Verhaltens oder eines ursächlichen Zusammenhangs auszugehen, obwohl die korrespondierenden Tatsachen nicht feststehen. Es wird also mithilfe der allgemeinen Lebenserfahrung eine Lücke in der Sachverhaltsfeststellung überbrückt. Es handelt sich um eine Methode der indirekten Beweisführung.
BGH GRUR 2017, 386, 388:
Zitat
Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist. Im Wege des Anscheinsbeweises kann gegebenenfalls von einem bestimmten eingetretenen Erfolg auf die Ursache geschlossen werden. Dieser Schluss setzt einen typischen Geschehensablauf voraus. Typizität bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings nur, dass der Kausalverlauf so häufig vorkommen muss, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist.
Der Rückschluss auf das schuldhafte Verhalten oder den ursächlichen Zusammenhang ist in diesen Fällen mithin zulässig, da es bestimmte Erfahrungssätze gibt, die entweder das schuldhafte Verhalten oder den ursächlichen Zusammenhang nahelegen.
BGH BeckRS 2018, 11143:
Zitat
Der Anscheinsbeweis greift jedoch nicht ein, wenn das Geschehen Umstände aufweist, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass das Schadensereignis anders abgelaufen ist als nach dem Muster der der Anscheinsregel zugrundeliegenden Erfolgstypik; das ist der Fall, wenn besondere Umstände hinzukommen, die wegen der Abweichungen des Sachverhalts von den typischen Sachverhalten einen anderen Geschehensablauf als ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit nahelegen.
Gelingt es den beweisbelasteten Parteien, die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises darzulegen und zu beweisen, ist der ursächliche Zusammenhang oder das schuldhafte Verhalten bewiesen.
Aber BGH GRUR 2017, 386, 388:
Zitat
Der Anscheinsbeweis ist entkräftet (erschüttert), wenn der Gegner die ernsthafte Möglichkeit eines anderweitigen Geschehensablaufs beweist.
Der Anscheinsbeweis hat mithin zwei Voraussetzungen: (i) das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs und (ii) Erfahrungssätze, die von einem typisierten Geschehensablauf auf das Verschulden oder einen Ursachenzusammenhang schließen lassen. Die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anscheinsbeweises trägt die Partei, die aus ihm Rechtsfolgen für sich herleiten möchte.