Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 27
Im Unterschied zu § 286 ZPO verlangt § 287 ZPO vom Gericht nicht, darüber zu entscheiden, "ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten" ist. Daraus wir eine Herabsetzung des Beweismaßes auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit abgeleitet.
Der BGH verlangt "eine deutlich überwiegende, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung."
Dazu der BGH in NZV 2017, 374, 375 bei Anwendung der Vorschrift des § 254 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 287 ZPO:
Zitat
Der Tatrichter ist bei seiner Überzeugungsbildung im Rahmen des § 254 Abs. 2 1 BGB nach § 287 BGB [Anm. der Schriftleitung: gemeint ist wohl ZPO] besonders freigestellt. Denn die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs, auf die sich die Verletzung der Schadensminderungspflicht auswirken kann, ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter erhebliches Vorbringen der Parteien unberücksichtigt gelassen Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat.
Die Vorschrift des § 287 ZPO ist auch bei der Bestimmung desjenigen, was sich der Geschädigte nach den Regeln des Vorteilsausgleichs anrechnen lassen muss, anwendbar.
Im Anwendungsbereich des § 287 ZPO müssen Tatsachen also nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden; es reicht aus, dass deutlich mehr für die eine als für die andere Wahrscheinlichkeit spricht. Das Gericht muss andere, weniger wahrscheinliche Verlaufsmöglichkeiten nicht mit der sonst gebotenen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschließen.
Der Zweck der Vorschrift liegt in der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens.
Allerdings werden die Möglichkeiten, die § 287 ZPO bietet, nicht hinreichend genutzt:
Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 5. Aufl., Rn 252:
Zitat
In der Praxis werden leider die Möglichkeiten der freien Schadensschätzung häufig nicht ausgeschöpft. Insbesondere gilt das hinsichtlich der Möglichkeit des Richters, die Höhe eines Schadensersatzanspruches oder einer sonstigen Forderung ohne Beweisaufnahme zu beziffern. Von der Vorschrift des § 287 ZPO wird zu wenig und zu ängstlich Gebrauch gemacht.
Rz. 28
Eine richtige Anwendung des § 287 ZPO schränkt die Substantiierungslast der Parteien ein. Ist etwa eine schädigende Handlung bewiesen, braucht der Geschädigte nur noch die sogenannten Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen zur Schadensbestimmung vorzutragen (und gegebenenfalls zu beweisen – und zwar nach dem Maßstab des § 286 ZPO), die geeignet sind, dem Ermessen bei der Beweiswürdigung eine Grundlage zu geben. Werden die Tatsachen, die Schätzgrundlage sein sollen, bestritten, ist (Voll-)Beweis zu erheben.
Der Kläger braucht nicht Tatsachen vorzutragen, die einen zwingenden Schluss auf die Entstehung und die Höhe des behaupteten Schadens zulassen, sondern nur Tatsachenbehauptungen aufzustellen, die sich als Grundlage einer richterlichen Schätzung eignen. Selbst wenn der Vortrag Lücken und Unklarheiten enthält, genügen greifbare Anhaltspunkte, die wenigstens zur Schätzung des Mindestschadens geeignet sind. Mit der Reduzierung des Beweismaßes korrespondiert mithin eine Erleichterung der Substantiierungslast. Die Erleichterung der Substantiierungslast veranschaulicht folgendes Beispiel aus der Rspr. des BGH:
Wird ein 4-jähriges Kind bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt und macht es auf seine Schmerzensgeldforderung von 150.000 EUR einen Verzugsschaden von 6 % Zinsen geltend, braucht es nichts weiter dazu vorzutragen, dass es die von einer Bank aufgezeigten Anlagemöglichkeiten auch wahrgenommen hätte.
Die Erleichterungen des § 287 ZPO kommen einer Partei aber nicht zugute, wenn sie sich weigert, durch wahrheitsgemäße Angaben die Sachaufklärung zu fördern.
Einwendungen des Gegners gegen die Schätzgrundlage sind nur beachtlich, wenn sie auf den konkreten Fall bezogen sind.
Rz. 29
Dem Geschädigten wird eine Beweiserleichterung eingeräumt; er braucht nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit zu beweisen; diese Wahrscheinlichkeit muss allerdings auf gesicherter Grundlage beruhen. Dadurch wird ausgeglichen, dass der Schädiger den Geschädigten häufig in Beweisnot gebracht haben wird. Dass die Schadensschätzung unter Umständen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, wird in Kauf genommen.
Rz. 30
Das Gericht ist verpflichtet, von der Möglichkeit der Schadensschätzung Gebrauch zu machen, wenn eine genauere Schadensbestimmung nicht möglich ist.
BGH MDR 1994, 250:
Zitat
Stehen Haftungsgrund und Schadenseintritt fest, darf das Gericht von einer Schätzung des Schadens nach § 287 ZPO nicht schon deshalb absehen, weil der Sachvortrag des Geschädigten eine abschließende Beurteilung seines gesamten Schadens nicht zulässt. Vielmehr ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang auf dieser Grundlage ein in jedem Fall eingetretener und aufgrund der geltend gemachten ...