Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 51
Hauptanwendungsbereich des Anscheinsbeweises ist im Ergebnis der Beweis der Kausalität und der Fahrlässigkeit einer Handlung. Er ist aber nicht darauf beschränkt. Grundsätzlich kann der Anscheinsbeweis auch herangezogen werden, um andere Tatbestandsmerkmale zu beweisen, vorausgesetzt es sind genügend gesicherte Erfahrungsgrundsätze vorhanden, die den Schluss auf ein bestimmtes tatbestandsmerkmal zulassen.
Steht ein Sachverhalt fest, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Geschehensablauf hinweist, ist diese Ursache oder dieser Ablauf, wenn er das Gepräge des Üblichen und Gewöhnlichen trägt, als bewiesen anzusehen.
Es ist eine Gesamtschau des Geschehensablaufs unter Einbeziehung aller Einzelfakten vorzunehmen. Je komplexer ein Sachverhalt ist und je weniger standardisierte Kausalverläufe denkbar sind, desto mehr entfernt man sich vom Anwendungsbereich des Anscheinsbeweises.
Rz. 52
Grundsätzlich abgelehnt wird vom BGH der Anscheinsbeweis für individuelle Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen. Denn ein entsprechender Willensentschluss werde von jedem Menschen nach verschiedenen, ihm besonders eigenen Gesichtspunkten gefasst.
BGH NJW 1988, 2040 (bei Vorsatztatbeständen):
Zitat
Durch die Lebenserfahrung gesicherte Typizität menschlichen Verhaltens und seiner Begleitumstände lässt sich nicht ausmachen, wenn es darum geht, ob der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall in der Absicht, den Versicherer in Anspruch zu nehmen, vorsätzlich herbeigeführt hat. Eine Beweisführung mittels Anscheinsbeweises kann deshalb in diesem Bereich nicht in Betracht kommen.
Mangels typischen Geschehensablaufs ist auch ein Anscheinsbeweis für einen Selbstmord abgelehnt worden.
Regelmäßig verneint wird eine Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises auch für die subjektive Seite der groben Fahrlässigkeit.
BGH NJW 2003, 1118, 1119:
Zitat
Es gibt keinen Grundsatz, nach dem das Nichtbeachten des Rotlichts einer Verkehrsampel stets als grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls anzusehen ist.
Das Nichtbeachten des roten Ampellichts wird wegen der damit verbundenen erheblichen Gefahren in aller Regel als objektiv grob fahrlässig anzusehen sein. Nach den jeweiligen Umständen kann es jedoch schon an den objektiven oder an den subjektiven Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit fehlen. Dies kann der Fall sein, wenn die Ampel nur schwer zu erkennen oder verdeckt ist und bei besonders schwierigen, insbesondere überraschend eintretenden Verkehrssituationen. Eine Beurteilung als nicht grob fahrlässig kann auch in Betracht kommen, wenn der Fahrer zunächst bei "Rot" angehalten hat und dann in der irrigen Annahme, die Ampel habe auf "Grün" umgeschaltet, wieder angefahren ist. Diese Beispiele sind nicht abschließend. Wegen der "Verschlingerung" objektiver und subjektiver Gesichtspunkte und der Notwendigkeit, die Würdigung auf die besonderen Umstände des Einzelfalls abzustellen, lassen sich nur mit großen Vorbehalten allgemeine Regeln darüber entwickeln, wann eine unfallursächliche Fahrlässigkeit als grobe zu qualifizieren ist.
Rz. 53
Aber OLG Nürnberg NJW-RR 1994, 1184, 1185:
Zitat
Allerdings kann sich die insoweit beweisbelastete Bekl. zum Nachweis, dass auch in subjektiver Hinsicht der Vorwurf grober Pflichtwidrigkeit begründet ist, nicht auf die Regeln des Anscheinsbeweises berufen (vgl. BGH VersR 1970, 568). Jedoch ist es […] zulässig und berechtigt zu folgern, dass dem nach außen in Erscheinung getretenen menschlichen Verhalten auf der subjektiven Seite Vorstellung und Wille entspricht. Daher kann von dem äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtenverstoßes auf die subjektive Seite der Verantwortlichkeit geschlossen werden (vgl. OLG Karlsruhe VersR 1994, 211). Dementsprechend hat auch […] [der BGH in NJW 1992, 2418] hervorgehoben, dass der Tatrichter aus dem äußeren Verhalten unter Umständen auf innere Vorgänge und Vorstellungen schließen kann und darf. Entscheidend ist dabei, ob in den äußeren Umständen dafür ein ausreichender Grund zu finden ist […]
Die Rspr. des BGH kennt weitere Ausnahmen, in denen ein Anscheinsbeweis für individuelle Verhaltensweisen von Menschen zugelassen wird, z.B. der Anscheinsbeweis für die Vermutung beratungsgerechten Verhaltens, vgl. Rdn 276. Deswegen weisen beispielsweise Doukoff und Laumen auch zu Recht darauf hin, dass die Rechtsprechung des BGH mit Blick auf die Anwendung des Anscheinsbeweises bei individuell geprägten Verhaltensweisen nicht widerspruchsfrei ist.