Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 196
Urkunde im Sinne der §§ 415 ff. ZPO sind durch Niederschrift verkörperte Gedankenerklärungen, die geeignet sind, Beweis für streitiges Parteivorbringen zu erbringen; siehe aber auch Rdn 204.
Aufgrund des unterschiedlichen Beweiswertes ist zwischen öffentlichen Urkunden und Privaturkunden zu unterscheiden. Öffentliche Urkunden sind solche, die im Rahmen ihrer amtlichen Zuständigkeit ausgestellt worden sind von Behörden des Bundes, der Länder, der Gemeinden und Kirchen oder von Personen, die – wie beispielsweise Notare oder Gerichtsvollzieher – kraft staatlicher Ermächtigung öffentlich-rechtliche Aufgaben wahrnehmen. Privaturkunden sind alle übrigen Urkunden.
1. Was ist eigentlich ein Urkundenbeweis?
Rz. 197
Wenn man einer gängigen Floskel glauben darf, die in Urteilen – aller Instanzen – zu lesen ist, dann wird landauf, landab über Unstreitiges Beweis erhoben. Gemeint ist der Fall, dass ein Zivilgericht, etwa in einer Verkehrsunfallsache, Strafakten beizieht und die dort zu findenden polizeilichen oder richterlich protokollierten Zeugenaussagen zur Überzeugungsbildung verwendet. Dies wird dann zumeist mit den Worten verlautbart, der Inhalt der Strafakten sei im Wege des Urkundenbeweises verwertet worden. Daraus muss der arglose Leser den Schluss ziehen, es sei ein Urkundenbeweis erhoben worden. In Wahrheit hat aber gar keine Beweiserhebung stattgefunden. Der Inhalt der im Verhandlungstermin vorliegenden Strafakten ist ausnahmslos unstreitig. Keine der Parteien kann und wird bestreiten, dass in den Akten genau das steht, was dort steht. Die dortigen Aussagen könnten ebenso gut ohne Beiziehung der Akten in der Weise in den Prozess eingeführt werden, dass die Parteien sie wörtlich zitieren; Gegenstand des Urkundenbeweises ist bekanntlich nur der gedankliche Inhalt der Urkunde, nicht etwa ihr Erscheinungsbild. Dass das Gericht die Akten stattdessen zum Gegenstand der Verhandlung macht, wie man diesen Vorgang gewöhnlich umschreibt, besagt demgemäß nichts anderes und nicht mehr, als dass der Akteninhalt beiderseits vorgetragen worden ist oder jedenfalls so behandelt werden soll.
Wie kann bei so bewandten Dingen noch die Erhebung irgendeines Urkundenbeweises in Betracht kommen und was sollte er bewirken?
Auf diese Frage kann man gelegentlich hören, bei der Verwertung der Zeugenaussagen aus einem anderen Verfahren gehe es nicht darum, die Existenz einer protokollierten Aussage festzustellen, sondern darum, den Inhalt der Aussage für die Tatsachenfeststellung zu verwerten. Dieser Einwand offenbart eine bemerkenswerte Verkennung von Zweck und Tragweite des Urkundenbeweises. Die Erhebung des Urkundenbeweises zielt in jedem Fall einzig und allein darauf ab, die behauptete Existenz einer Urkunde bestimmten Inhalts nachzuweisen. Mit diesem Nachweis ist der Urkundenbeweis geführt und die Beweiserhebung beendet. Das Weitere sind nur Schlussfolgerungen aus der nachgewiesenen Urkunde. Diese Schlussfolgerungen sind zwar Teil der Tatsachenfeststellung, aber nicht Teil der Beweiserhebung.
Wem das nicht unmittelbar einleuchtet, der braucht sich nur den Fall vorzustellen, dass eine Quittung bestimmten Inhalts unstreitig ausgestellt worden ist. Aus dieser unstreitigen Quittung wird man sicher bedeutsame Schlüsse ziehen; so wird man etwa mittels des prima facies Satzes, dass niemand eine ihm nachteilige Erklärung abgibt, wenn sie nicht stimmt, schließen, dass die quittierte Zahlung auch wirklich erfolgt ist, und die entsprechende Feststellung treffen. Aber es käme doch im Traum keiner auf den Gedanken, in diesem Fall irgendeinen Urkundenbeweis zu erheben.
Weiter ist ins Gedächtnis zu rufen, dass sämtliche im Gesetz geregelten Arten der Urkundenbeweiserhebung einzig und allein die Vorlage der Urkunde und deren Einsichtnahme durch das Gericht zum Ziel haben, also offenbar nur auf den Nachweis ihres Vorhandenseins abzielen.
Das Gericht gewinnt auch gar nichts dadurch, dass eine Urkunde statt durch unstreitigen Parteivortrag durch Erhebung des Urkundenbeweises in den Prozess eingeführt wird. Der inhaltliche Beweiswert einer Urkunde hängt davon nicht ab.
Die in einem anderen Verfahren protokollierten unstreitigen Zeugenaussagen gewinnen nichts an Beweiskraft dadurch, dass das Gericht sie mit dem Bemerken zur Kenntnis nimmt, die Akten seien im Wege des Urkundenbeweises verwertet worden. Das ist beim Zeugenbeweis naturgemäß anders. Der Beweiswert einer Zeugenaussage ist durchaus verschieden, je nachdem, ob der Richter den Zeugen selbst vernommen hat oder nicht. Der Inhalt einer unstreitigen Urkunde dagegen gewinnt durch die Einsicht in das Original nichts.
Die erhellendste Darstellung des Verhältnisses von Urkundenbeweis und Aktenverwertung findet sich in einer älteren Reichsgerichtsentscheidung, RGZ 102, 328/330, die allein schon wegen ihrer einmaligen Klarheit vor dem Vermodern in der amtlichen ...