Rz. 20
Dieses Haftungsprivileg kann auch in Fällen einer sog. Gefahrengemeinschaft eingreifen, so dass der Haftpflichtversicherer privilegiert ist. Die Grundsätze der Gefahrengemeinschaft greifen z.B. dann, wenn in der Umschlaghalle eines Logistikzentrums zwei Mitarbeiter unterschiedlicher Unternehmen als Führer von Flurförderfahrzeugen zusammenstoßen und dabei Personenschäden erleiden.
Rz. 21
Muster 5.6: Gemeinsame Betriebsstätte bei Gefahrengemeinschaft
Muster 5.6: Gemeinsame Betriebsstätte bei Gefahrengemeinschaft
Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt (BGH, Urt. v. 11.10.2011 – VI ZR 248/10 – juris; BGH VersR 2004, 604). Diese Grundsätze gelten insbesondere bei einer sog. Gefahrengemeinschaft, welche die Rechtfertigung für den Haftungsausschluss des § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII bildet (BGH VersR 2008, 642). Eine Gefahrengemeinschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass jeder der (in enger Berührung miteinander) Tätigen sowohl zum Schädiger als auch zum Geschädigten werden kann (vgl. BGHZ 157, 213, 218 f. m.w.N.; OLG Düsseldorf r+s 2015, 525). Es reicht die Möglichkeit aus, dass es durch das enge Zusammenwirken wechselseitig zu Verletzungen kommen kann (BGH VersR 2004, 1045). Demgemäß kann eine Gefahrengemeinschaft auch bestehen, wenn eine wechselseitige Gefährdung zwar eher fern liegt, aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist (BGH VersR 2008, 642; vgl. OLG Frankfurt r+s 2007, 524, 525).
Rz. 22
Zu beachten ist, dass eine Haftungsfreistellung nach § 106 SGB VII einen Versicherungsschutz voraussetzt, d.h. sowohl der Schädiger als auch der Geschädigte müssen bei der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sein. § 106 Abs. 3 SGB VII regelt die Voraussetzungen einer Haftungsfreistellung bei einer gemeinsamen Betriebsstätte abschließend. Die erweiterte Haftungsfreistellung für nicht versicherte Unternehmer (§ 105 Abs. 2 S. 1 SGB VII) wurde in diese Vorschrift gerade nicht, auch nicht über Verweisungen, einbezogen.
Der nicht selbst auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätige Unternehmer, der neben seinem nach § 106 Abs. 3 Var. 3. SGB VII haftungsprivilegierten Verrichtungsgehilfen lediglich nach den §§ 831, 823, 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner haftet, ist gegenüber dem Geschädigten nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses von der Haftung für erlittene Personenschäden freigestellt; ein im Innenverhältnis zwischen dem Verrichtungsgehilfen und dem Geschäftsherrn etwa bestehender arbeitsrechtlicher Freistellungsanspruch bleibt dabei außer Betracht.
Die Haftung des nicht auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätigen Unternehmers bleibt im Rahmen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses auf die Fälle beschränkt, in denen ihn nicht nur eine Haftung wegen vermuteten Auswahl- und Überwachungsverschuldens gemäß § 831 BGB, sondern eine eigene "Verantwortlichkeit" zur Schadensverhütung, etwa wegen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten oder wegen eines Organisationsverschuldens trifft.
Rz. 23
Eine (weitere) besondere Konstellation liegt vor, wenn zwei Unternehmer bzw. die für sie tätigen Arbeitnehmer den Schaden verursachen und nur zugunsten des Erstschädigers (aufgrund einer gemeinsamen Betriebsstätte mit dem Geschädigten) eine Haftungsfreistellung erfolgt. In diesem Fall eines sog. gestörten Gesamtschuldverhältnisses erfolgt die Lösung zu Lasten des Geschädigten: Dessen Anspruch gegen den Zweitschädiger wird um den Verantwortungsbeitrag des von der Haftung freigestellten Erstschädigers gekürzt.
Beispiel
Mitarbeiter des Unternehmers A schädigen den Bauarbeiter B auf einer gemeinsamen Baustelle im Zusammenwirken mit einem nicht an der Baustelle beteiligten Unternehmer C. Die Verursachungsbeiträge sind gleichgewichtig. Die Gesamtschuld der Schädiger berechtigt den Geschädigten grundsätzlich dazu, jeden einzelnen Schädiger auf den gesamten Schaden in Anspruch nehmen zu können. Aufgrund des aus dem Haftungsprivileg resultierenden gestörten Gesamtschuldverhältnisses kann der Geschädigte B gegen den Unternehmer C nur einen um 50 % gekürzten Haftungsanspruch geltend machen.
Letztendlich hängt die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte immer von den Umständen des Einzelfalls ab.