Rz. 106
Bei einer rein kausalen Betrachtungsweise müsste das Regressgericht aufklären, wie die damals angegangene Instanz tatsächlich geurteilt hätte, also ggf. die im Ausgangsprozess tätigen Richter dazu als Zeugen vernehmen. Nach ständiger Rechtsprechung kommt es darauf nicht an. Vielmehr hat der Schadensersatzrichter zu prüfen, wie nach seiner Auffassung der Vorprozess richtigerweise hätte entschieden werden müssen. Dies gilt auch dann, wenn das andere Verfahren unterbrochen ist und noch fortgesetzt werden kann. Die Beurteilung des Regressrichters ist sogar dann maßgeblich, wenn feststeht, welchen Ausgang das frühere Verfahren bei vertragsgerechter Arbeit des Anwalts genommen hätte. Da es rechtlich nicht darauf ankommt, wie ein noch nicht abgeschlossener Vorprozess tatsächlich ausgeht, kann der Regressprozess nicht bis zu dessen Erledigung nach § 148 ZPO ausgesetzt werden. Der Regressrichter muss eine eigene Entscheidung fällen. Die wertende Betrachtungsweise führt indessen niemals dazu, dass der Anwalt einen lediglich fiktiven, mit der Realität nicht zu vereinbarenden Schadensersatz schuldet; denn Voraussetzung ist immer, dass dem Mandanten infolge des Fehlers eine ihm günstige, Gesetz und Recht entsprechende Entscheidung entgangen ist. Der Verlust einer tatsächlichen oder rechtlichen Position, auf die er keinen Anspruch hat, ist grundsätzlich kein erstattungsfähiger Nachteil. Diese Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind verfassungsrechtlich unbedenklich.
Rz. 107
Nicht erheblich ist die in einigen älteren Entscheidungen des BGH auftauchende Erwägung, es sei schwerlich aufzuklären, wie die konkret zuständigen Personen entschieden hätten. Diese Begründung trägt nicht, weil sich in Einzelfällen durchaus feststellen lässt, zu welchem Ergebnis das Gericht bei vertragsgerechtem Verhalten des Beraters gelangt wäre. Maßgeblich ist vielmehr allein die Wertung, dass der Mandant nicht davon profitieren darf, wenn in dem Vorprozess bei vertragsgerechter Leistung des Anwalts ein Fehlurteil zu seinen Gunsten ergangen wäre. Er soll vielmehr nur das ersetzt verlangen können, was er ohne den anwaltlichen Fehler zu Recht erhalten hätte.
Rz. 108
Der Regressrichter hat für seine eigene Beurteilung von dem Sachverhalt auszugehen, der dem Gericht bei pflichtgemäßem Verhalten des Anwalts unterbreitet worden wäre. Zugrunde zu legen ist die Rechtslage zu dem Zeitpunkt, zu dem die hypothetische Entscheidung ergangen wäre bzw. hätte ergehen müssen; denn die Pflichtverletzung des Anwalts, auf die der Ersatzanspruch gestützt wird, kann grds. nur auf den Rechtszustand bezogen werden, der galt, als der Anwalt konsultiert wurde. Wäre bei pflichtgemäßer anwaltlicher Beratung ein Rechtsmittel eingelegt worden, kommt es allein darauf an, ob dieses bei sachgerechter Ausführung von Rechts wegen hätte Erfolg haben müssen.
Rz. 109
Zu dem im Zeitpunkt der hypothetischen Entscheidungen geltenden Recht gehört auch die höchstrichterliche Rechtsprechung in ihrer damaligen Ausprägung. Der Anwalt hat seine Beratung an der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung auszurichten, sogar dann, wenn er selbst sie für unzutreffend hält. Hat sie danach für den Anwalt bei seiner Tätigkeit gesetzesähnliche Bedeutung, kann ihr kein geringeres Gewicht beigemessen werden, wenn es darum geht, unter welchen Voraussetzungen der Anwalt dafür einzustehen hat, dass das dem Mandanten günstige Ergebnis des hypothetischen Inzidentprozesses tatsächlich nicht eingetreten ist. Dies erweist sich besonders dann als sachgerecht, wenn die im Ausgangsverfahren getroffene Entscheidung der Kontrolle einer anderen Gerichtsbarkeit als der Ziviljustiz untersteht. Die dort zuständigen Richter sind aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse und beruflichen Erfahrungen besonders geeignet, die in dem jeweiligen Rechtsgebiet auftretenden Fragen zu beantworten, weil sie i.d.R. über ein reicheres Fachwissen verfügen als der Zivilrichter. Es entspricht deshalb den berechtigten Belangen beider Parteien, dass der im Schadensersatzprozess zuständige Richter bei der Beantwortung von Fragen aus einem ihm fernliegenden Rechtsgebiet sich an der dort geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung ausrichtet, die sich in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt gebildet hatte. Eine Ausnahme gilt lediglich, sofern sich später herausstellt, dass diese Rechtsprechung mit der Verfassung nicht vereinbar war. Darin liegt keine Tendenzwende der höchstrichterlichen Rechtsprechung, sondern lediglich eine Präzisierung des normativen Schadensbegriffs, weil nicht nur die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Vorschriften, sondern auch die damals einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung einbezogen wird.
Rz. 110
Macht der im Vorprozess zu einer Zahlung an den dortigen Kläger verurteilte Mandant zu Recht geltend, die Klage hätte bei sachgerechtem Vortrag des Anwalts aus der vom Gericht im Vorprozess bejah...