Rz. 13
Hat der Anwalt vertragliche Aufklärungs-, Hinweis- oder Beratungspflichten verletzt, ergibt sich in jedem Fall die Frage, wie der Mandant gehandelt hätte, wäre er ordnungsgemäß ins Bild gesetzt worden. Da es sich insoweit um einen gedachten, hypothetischen Sachverhalt handelt, begründet dieser Punkt besondere Beweisschwierigkeiten, die zudem bei pflichtgemäßem Handeln des rechtlichen Beraters nicht aufgetreten wären. Daher sind sich Lehre und Praxis im Ansatz einig, dass dem Mandanten das Überwinden dieser Hürde erleichtert werden muss.
Rz. 14
Nach einer vom BGH im Kauf- und Werkvertragsrecht entwickelten Rechtsprechung trifft denjenigen, der vertragliche Hinweis- oder Beratungspflichten verletzt, das Risiko der Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs, soweit es um die Frage geht, wie der Kunde gehandelt hätte, wenn ihm die gebotene Aufklärung erteilt worden wäre. Zu dessen Gunsten gilt also die Vermutung, er hätte sich so entschieden, dass ihm kein finanzieller Nachteil entstanden wäre. Der Vertragsgegner kann eine entsprechende richterliche Wertung nur dadurch vermeiden, dass er den vollen Gegenbeweis führt. Diese Beweislastverteilung wurde später auf andere Vertragstypen ausgedehnt und insb. im Recht der Anlageberatung sowie im Maklerrecht übernommen.
Rz. 15
Der BGH nahm zunächst auch bei Regressprozessen gegen rechtliche Berater eine entsprechende Beweislastumkehr an. Zugunsten des Mandanten gelte die tatsächliche Vermutung, dass derjenige, der einen anderen wegen seiner besonderen Sachkunde um Rat frage, sich beratungsgemäß verhalten hätte.
Rz. 16
Diese Rechtsprechung hat der IX. Zivilsenat des BGH mit Urt. v. 30.9.1993 aufgegeben. Maßgebend dafür war in erster Linie die aus der Behandlung zahlreicher Fälle im Laufe der Jahre gewonnene Erkenntnis, dass die Verlagerung der Beweislast bei Verträgen, die die rechtliche Beratung und Betreuung zum Gegenstand haben, nicht zu einer angemessenen Risikoverteilung zwischen den Parteien führt. Anders als etwa im Kauf- und Werkvertragsrecht stammen die Gefahren, über die zu belehren ist, nicht regelmäßig aus der Sphäre desjenigen, den die Hinweispflicht trifft. Bei Verträgen mit rechtlichen Beratern bestimmen sich die Umstände, die eine Aufklärung und Belehrung erfordern, wesentlich nach den spezifischen Wünschen, Anliegen und Belastungen des Mandanten sowie nach seinen individuellen Lebensumständen. Daraus können sich deutliche Hinweise dafür ergeben, dass er dem rechtlich gebotenen Hinweis seines Beraters nicht gefolgt wäre. Müsste dieser auch in solchen Fällen den vollen Gegenbeweis führen und demgemäß Tatsachen aus dem Einflussbereich seines Auftraggebers beweisen oder widerlegen, stände er vor einer praktisch nicht überwindbaren Hürde. Die Beweislastumkehr entzöge folglich den individuellen Umständen und Verhaltensweisen des Auftraggebers jede entscheidungserhebliche Bedeutung. Dieser wäre im Ergebnis praktisch so gestellt, als hätte er die versäumten Hinweise tatsächlich befolgt, und erhielte damit mehr, als es seine schutzwürdigen Interessen erfordern. Daher bleibt es im Ansatz bei der Beweislast des Mandanten.
Rz. 17
Die Beurteilung, wie der Mandant im Fall vertragsgerechter Beratung gehandelt hätte, bezieht sich nicht auf ein reales Geschehen, sondern den hypothetischen Fall, dass der Anwalt eine einwandfreie Leistung erbracht hätte. Eine solche Würdigung ist in hohem Maße auf Erfahrungswerte angewiesen und kann regelmäßig nur zu Wahrscheinlichkeitsaussagen gelangen. Derjenige, der sich zur Durchsetzung eigener Interessen der überlegenen Kenntnis eines Anwalts bedient, ist im Allgemeinen bereit, die bei sachgerechter Beratung nahe liegende Lösung zur Erreichung des angestrebten Ziels zu akzeptieren und umzusetzen. Eine auf die Lebenserfahrung gestützte tatsächliche Vermutung sowie eine aus der Typizität eines bestimmten Geschehensablaufs gezogene Schlussfolgerung führen zur Anwendung der Regeln über den Anscheinsbeweis; denn eine auf Erfahrungssätzen beruhende tatsächliche Vermutung ist ein Element der Beweiswürdigung, welches erschüttert ist, sobald feststeht, dass infolge bestimmter Indizien ein atypischer Kausalverlauf konkret möglich erscheint.
Rz. 18
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung gilt seit jeher der Grundsatz, für individuelle Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen könne es keinen Anscheinsbeweis geben. Dies mag zutreffend sein, wenn ein Vorgang zu beweisen ist, der sich tatsächlich ereignet hat, etwa die Frage, ob eine bestimmte Handlung vorsätzlich begangen worden ist. Muss sich der Richter jedoch die Überzeugung davon bilden, wie ein nur gedachtes Geschehen voraussichtlich abgelaufen wäre, stehen ihm keine unmittelbaren Beweise zur Verfügung. Folglich ist er auf Indizien, Vermutungen und die Lebenserfahrung angewiesen, aufgrund deren er seine Würdigung vorzunehmen hat. Dann aber muss es rechtlich zulässig sein, aus Sachverhalten, die eine bestimmte Reaktion des Betroffenen nahe legen, pri...