Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 244
Fallbeispiel 69: Ausschlagen oder nicht?
Die Geschwister S und T sollten nach dem Tod des Vaters jeweils eines der beiden vorhandenen Grundstücke erben. Im Laufe der Jahre hatte der Vater aber schon ein Grundstück auf den kinderlosen Sohn S übertragen und auch kein Testament errichtet. Nach seinem Tod erben beide Kinder die allein verbleibende Immobilie. S bezieht mittlerweile Job-center-Leistungen. Er ist der Auffassung, er habe seinen Anteil ja schon erhalten. Die Immobilie stehe der Schwester zu. Kann er folgenlos ausschlagen?
Rz. 245
Zur zivilrechtlich unbestrittenen Wirksamkeit der Ausschlagung ("negative Erbfreiheit") wird zunächst auf die Ausführungen zu § 103 SGB XII hingewiesen. Ob sie sozialrechtlich "sozialwidrig" sein kann, wird dort auch diskutiert und ist ggf. eine Frage des Einzelfalles. Jedenfalls hat der BGH in seiner Pflichtteilsverzichtsentscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die sozialrechtlichen Sanktionsnormen daneben weiterhin bestehen. Einzelne Gerichte und die Literatur gehen davon aus, dass "eine klare Rechtslage, die offensichtlich die Wirksamkeit einer Ausschlagung einer Erbschaft zulasten des Sozialhilfeträgers unbesehen bejaht, unter Berufung auf die angeführte Entscheidung des BGH nicht angenommen werden kann." Sie müsse nicht unter allen Umständen hingenommen werden.
Rz. 246
Aus der verneinten Sittenwidrigkeit im zivilrechtlichen Sinn wird man also nicht ohne weiteres immer auch auf die fehlende Sozialwidrigkeit im sozialhilferechtlichen Sinn schließen können; für die Beurteilung wird vielmehr auf die Gegebenheiten des Einzelfalls abzustellen sein. In diesem Zusammenhang ist allerdings auf eine BSG-Entscheidung zur Erfüllung insolvenzrechtlicher Obliegenheiten bei angenommener Erbschaft hinzuweisen. Dort hat das BSG zwar auf einen möglichen Ersatzanspruch gegen den Hilfebezieher verwiesen, gleichzeitig aber einen wichtigen Satz der Vorinstanz nicht beanstandet. Obwohl es in dem Fall um eine nicht ausgeschlagene Erbschaft ging, führte das LSG mit Allgemeingültigkeit aus:
Zitat
"Nach alledem steht dem Schuldner im Falle einer Erbschaft ein Gestaltungsspielraum zu. Er kann die Erbschaft insolvenzrechtlich– und damit nach Einschätzung des Senats auch grundsicherungsrechtlich – sanktionslos ausschlagen oder sie annehmen. Nimmt er sie an, so steht ihm tatsächlich aber die Erbschaft in Höhe seines vollen Erbteils zu und ihn trifft die Pflicht, diese zur Sicherung des Lebensunterhalts und nicht zur Schuldentilgung zu verwenden."
Dass "sanktionslos" ausgeschlagen werden darf, würde bedeuten, dass die Sanktionen des SGB II nicht in Betracht kommen. Zumindest für den Pflichtteilsverzicht vertritt das SG Stuttgart einen Gleichklang von Zivilrecht und Sozialrecht. Der Verzichtende erwerbe ja nur eine Erwerbschance und deshalb könne sein Handeln auch nicht nur von dem Motiv getragen sein, dem Sozialleistungsträger Vermögen zu entziehen.
Obwohl Ausschlagung und Pflichtteilsverzicht höchst bedeutsame Gestaltungselemente sind, gibt es derzeit keine weiteren gerichtlichen Entscheidungen zu solchen Fallgestaltungen und auch die notarielle Praxis ist vorsichtig.
Rz. 247
Falllösung Fallbeispiel 69:
Mangels Testamentes gilt die gesetzliche Erbfolge von Bruder und Schwester. Mit Ausschlagung des Bruders gilt der Anfall der Erbschaft als nicht erfolgt und nach § 1953 Abs. 2 BGB fällt die Erbschaft demjenigen an, welcher berufen sein würde, wenn der Ausschlagende zur Zeit des Erbfalls nicht gelebt hätte. § 1924 BGB findet keine Anwendung. Nach § 1925 BGB sind Erben der zweiten Ordnung die Eltern des Erblassers und deren Abkömmlinge, also die Geschwister.
Mit einer Ausschlagung begünstigt S seine Schwester T, ohne dass er rechtlich hierzu verpflichtet wäre. Auf den ursprünglichen Willen des Vaters kommt es nicht an. Vieles spricht für eine sanktionslose Ausschlagungsmöglichkeit. Expressiv verbis hat das BSG eine solche Fallkonstellation aber bisher nicht entschieden.
Fraglich ist, ob es möglich ist, die Gründe für die Ausschlagung mit einem weiteren Tatbestandsmerkmal des § 34 SGB II zu "unterfüttern", nämlich dem wichtigen Grund. Das scheint allerdings eher schwierig, denn der wichtige Grund muss objektiv vorliegen. Es kommt nicht darauf an, dass der Betroffene annimmt, er habe einen wichtigen Grund.