Rz. 78
Zitat
StVO §§ 1 Abs. 2, 25 Abs. 3; BGB §§ 249, 254, 276, 823 Abs. 1; StVG §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1
Zur Reichweite des Vertrauensgrundsatzes hinsichtlich des verkehrsgerechten Verhaltens eines Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn.
Orientierungssatz juris:
1. Hat ein aus Sicht des Kraftfahrers von links die Fahrbahn querender Fußgänger die Fahrbahn bereits betreten und ist noch in Bewegung, darf der Kraftfahrer nicht in jedem Fall darauf vertrauen, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehenbleiben und ihn vorbeilassen (Festhaltung BGH, Urt. v. 24.2.1987 – VI ZR 19/86).
2. Dem Vertrauen darauf, der Fußgänger werde an einer vorhandenen Mittellinie anhalten und das bevorrechtigte Fahrzeug passieren lassen, ist jedenfalls dann die Grundlage entzogen, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände Anlass für den Kraftfahrer besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln. Dies ist der Fall, wenn sich der Fußgänger nicht mit normaler Geschwindigkeit bewegt, sondern die Fahrbahn rennend zu überqueren versucht.
a) Der Fall
Rz. 79
Der Kläger nahm die Beklagten auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.
Rz. 80
Der Unfall ereignete sich am 7.6.2014 gegen 23 Uhr auf der S. Brücke in B. Die Fahrbahn der S. Brücke besteht aus zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen mit jeweils einem Randstreifen, der als Fahrradweg markiert ist. Die Gesamtbreite der Fahrbahn beträgt rund 12,5 m. Der Beklagte zu 1 befuhr die Brücke aus K. kommend in Richtung F. mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf dem dafür vorgesehenen rechten Fahrstreifen, während der Kläger von dem aus der Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 gesehen linken Gehweg aus begann, zu Fuß die Brücke zu überqueren. Nach Erreichen des von dem Beklagten zu 1 genutzten Fahrstreifens kam es zur Kollision zwischen dem Kläger und dem vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeug, wodurch der Kläger erheblich verletzt wurde.
Rz. 81
Der Kläger trägt vor, er habe die Fahrbahn der S. Brücke mit "normaler" Geschwindigkeit überquert. Der Beklagte zu 1 habe erst gebremst, nachdem er mit dem Kläger kollidiert sei. Die Beklagten behaupten, der Kläger habe die Fahrbahn rennend und unmittelbar hinter einem Lieferwagen ohne anzuhalten überquert, weshalb der Beklagte zu 1 ihn erst unmittelbar vor dem Zeitpunkt des Zusammenstoßes habe wahrnehmen können und dann eine Vollbremsung vorgenommen habe, ohne dass dadurch jedoch der Zusammenstoß vermeidbar geworden wäre.
Rz. 82
Mit seiner Klage begehrte der Kläger unter Berücksichtigung eines ihn treffenden Mitverschuldens in Höhe von 50 % den Ersatz materieller und immaterieller Schäden sowie die Feststellung, dass die Beklagten ihm 50 % seines zukünftigen Schadens zu ersetzen haben. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Kammergericht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgte der Kläger die von ihm geltend gemachten Ansprüche weiter.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 83
Das Berufungsurteil hielt der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts konnten Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagten gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, §§ 823, 249 BGB, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Klage sei unbegründet, weil kein Verschulden des Beklagten zu 1 an dem Unfall festzustellen sei und die Haftung der Beklagten aus der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges deshalb hinter dem groben Eigenverschulden des Klägers zurücktrete, war von Rechtsfehlern beeinflusst.
Rz. 84
Das Berufungsgericht hatte im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass es für die Frage der Haftung der Beklagten darauf ankommt, ob dem Beklagten zu 1 ein unfallursächliches schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann. Gelingt dem Kläger dieser Nachweis nicht, scheiden Schadensersatzansprüche nach §§ 823, 249 BGB, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG aus, ohne dass es auf die Frage einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens (§ 254 BGB) ankäme. Da der Kläger bei dem Betrieb des vom Beklagten zu 1 geführten und bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges verletzt wurde, haben die Beklagten zwar auch ohne den Beweis eines Verschuldens des Beklagten zu 1 grundsätzlich aufgrund der Betriebsgefahr des Fahrzeuges für den unfallbedingten materiellen und immateriellen Schaden gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 11 StVG, § 115 Abs. 1 VVG einzustehen, weil sie den Beweis der Verursachung durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG nicht führen können. Da der Kläger weder Halter noch Führer eines beteiligten Fahrzeuges war, kommt eine Anspruchskürzung nach den §§ 17, 18 StVG nicht in Betracht. Die Beklagte zu 2 und der Beklagte zu 1 (letzterer vorbehaltlich einer Entlastung nach § 18 Abs. 1 S. 2 StVG; Feststellungen zur Haltereigenschaft des Beklagten zu 1 haben die Instanzgerichte nicht getroffen) hafte...