Leitsatz (amtlich)
Zur Reichweite des Vertrauensgrundsatzes hinsichtlich des verkehrsgerechten Verhaltens eines Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn.
Normenkette
StVO §§ 1, 25 Abs. 3; BGB § 276
Verfahrensgang
KG Berlin (Entscheidung vom 23.11.2020; Aktenzeichen 22 U 134/19) |
LG Berlin (Entscheidung vom 24.07.2019; Aktenzeichen 42 O 347/17) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 22. Zivilsenats des Kammergerichts vom 23. November 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagten auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.
Rz. 2
Der Unfall ereignete sich am 7. Juni 2014 gegen 23 Uhr auf der S. brücke in B.. Die Fahrbahn der S. brücke besteht aus zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen mit jeweils einem Randstreifen, der als Fahrradweg markiert ist. Die Gesamtbreite der Fahrbahn beträgt rund 12,5 m. Der Beklagte zu 1 befuhr die Brücke aus K. kommend in Richtung F. mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf dem dafür vorgesehenen rechten Fahrstreifen, während der Kläger von dem aus der Fahrtrichtung des Beklagten zu 1 gesehen linken Gehweg aus begann, zu Fuß die Brücke zu überqueren. Nach Erreichen des von dem Beklagten zu 1 genutzten Fahrstreifens kam es zur Kollision zwischen dem Kläger und dem vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeug, wodurch der Kläger erheblich verletzt wurde.
Rz. 3
Der Kläger trägt vor, er habe die Fahrbahn der S. brücke mit "normaler" Geschwindigkeit überquert. Der Beklagte zu 1 habe erst gebremst, nachdem er mit dem Kläger kollidiert sei. Die Beklagten behaupten, der Kläger habe die Fahrbahn rennend und unmittelbar hinter einem Lieferwagen ohne anzuhalten überquert, weshalb der Beklagte zu 1 ihn erst unmittelbar vor dem Zeitpunkt des Zusammenstoßes habe wahrnehmen können und dann eine Vollbremsung vorgenommen habe, ohne dass dadurch jedoch der Zusammenstoß vermeidbar geworden wäre.
Rz. 4
Mit seiner Klage begehrt der Kläger unter Berücksichtigung eines ihn treffenden Mitverschuldens in Höhe von 50 % den Ersatz materieller und immaterieller Schäden sowie die Feststellung, dass die Beklagten ihm 50 % seines zukünftigen Schadens zu ersetzen haben. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Kammergericht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger die von ihm geltend gemachten Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 5
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung unter anderem ausgeführt, der Kläger habe unter Nichteinhaltung seiner aus § 25 Abs. 3 StVO resultierenden Sorgfaltspflichten die Fahrbahn auf der S. brücke überquert, ohne auf den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr zu achten und dem vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeug den Vorrang einzuräumen. Die Missachtung dieser Sorgfaltspflicht des Fußgängers sei regelmäßig leichtfertig und daher grob fahrlässig. Der Kläger habe den insoweit gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttert. Insbesondere aufgrund der Fahrzeug- und der Straßenbeleuchtung habe er das vom Beklagten zu 1 geführte Fahrzeug rechtzeitig wahrnehmen können und müssen.
Rz. 6
Das Landgericht habe zutreffend ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1 verneint. Der Beklagte zu 1 sei weder mit einer den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren (§ 3 Abs. 1 StVO) noch habe er gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Entscheidend sei insoweit nicht auf den Zeitpunkt abzustellen, als der Kläger die Fahrbahn erstmals betreten habe, sondern auf den Zeitpunkt, als der Kläger den Mittelstreifen überquert, die vom Beklagten zu 1 befahrene Fahrspur betreten und dadurch für den Beklagten zu 1 erstmals erkennbar zum Ausdruck gebracht habe, trotz des Herannahens des vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeuges dessen Vorrang nicht zu beachten. Ein Fahrzeugführer brauche nämlich nicht damit zu rechnen, dass ein Fußgänger das Überqueren einer mehrspurigen Straße über die Mittellinie hinaus fortsetze, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe sei. Dieser Vertrauensgrundsatz erfahre lediglich Einschränkungen im Bereich des § 3 Abs. 2a StVO gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, wobei jedoch selbst hier konkrete Umstände dafür sprechen müssten, dass ein nicht verkehrsgerechtes Verhalten einer solchen Person drohe. Grundsätzlich müsse kein Autofahrer mit einem unbedachten und unvorsichtigen Verhalten erwachsener Fußgänger im Straßenverkehr rechnen. Bei der etappenweise möglichen Überquerung einer Fahrbahn dürfe sich ein Fahrzeugführer gegenüber einem Fußgänger deshalb darauf verlassen, dass dieser bei einer erkennbaren Trennung der Fahrbahnseiten - hier durch eine Mittellinie - mit dem Erreichen der anderen (Gegen-)Fahrbahnseite auf den von rechts kommenden Verkehr achte. Abgestellt auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Überquerens der Mittellinie sei es für den Beklagten zu 1 nicht mehr möglich gewesen, das Fahrzeug vor dem Zusammenstoß mit dem Kläger abzubremsen oder die Kollision durch ein Ausweichmanöver zu vermeiden. Dabei sei aufgrund der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen hinsichtlich der Bewegungsgeschwindigkeit des Klägers dessen Vortrag, er sei lediglich gegangen, widerlegt. Der Sachverständige habe in seinem schriftlichen Gutachten die wahrscheinliche Bewegungsgeschwindigkeit des Klägers im Bereich von 12 bis 18 km/h bestimmt und im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht insoweit ergänzt, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass der Kläger sich nicht mit einer wesentlich geringeren Geschwindigkeit als 10 km/h fortbewegt habe. Ob die Sicht des Beklagten zu 1 auf den Kläger durch einen entgegenkommenden Kastenwagen oder die A-Säule seines Fahrzeuges eingeschränkt gewesen sei, könne dahinstehen, da der Zusammenstoß für den Beklagten zu 1 in jedem Fall unvermeidbar gewesen sei. Einen Unabwendbarkeitsbeweis gemäß § 17 Abs. 3 StVG müssten die Beklagten nicht erbringen, weil § 17 StVG mangels einer Schadensverursachung durch "mehrere Fahrzeuge" nicht anwendbar sei. Es komme somit nicht darauf an, ob ein Idealfahrer überhaupt in diese Gefahrensituation gekommen wäre.
Rz. 7
Könne - wie hier - kein Verschulden des Kraftfahrers an der Kollision mit einem sorglos die Fahrbahn überquerenden Fußgänger festgestellt werden, trete die Haftung aus Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück.
II.
Rz. 8
Diese Erwägungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts können Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagten gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, §§ 823, 249 BGB, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Klage sei unbegründet, weil kein Verschulden des Beklagten zu 1 an dem Unfall festzustellen sei und die Haftung der Beklagten aus der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges deshalb hinter dem groben Eigenverschulden des Klägers zurücktrete, ist von Rechtsfehlern beeinflusst.
Rz. 9
1. Das Berufungsgericht hat im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass es für die Frage der Haftung der Beklagten darauf ankommt, ob dem Beklagten zu 1 ein unfallursächliches schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann. Gelingt dem Kläger dieser Nachweis nicht, scheiden Schadensersatzansprüche nach §§ 823, 249 BGB, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG aus, ohne dass es auf die Frage einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens (§ 254 BGB) ankäme. Da der Kläger bei dem Betrieb des vom Beklagten zu 1 geführten und bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges verletzt wurde, haben die Beklagten zwar auch ohne den Beweis eines Verschuldens des Beklagten zu 1 grundsätzlich aufgrund der Betriebsgefahr des Fahrzeuges für den unfallbedingten materiellen und immateriellen Schaden gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 11 StVG, § 115 Abs. 1 VVG einzustehen, weil sie den Beweis der Verursachung durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG nicht führen können. Da der Kläger weder Halter noch Führer eines beteiligten Fahrzeuges war, kommt eine Anspruchskürzung nach den §§ 17, 18 StVG nicht in Betracht. Die Beklagte zu 2 und der Beklagte zu 1 (letzterer vorbehaltlich einer Entlastung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG; Feststellungen zur Haltereigenschaft des Beklagten zu 1 haben die Instanzgerichte nicht getroffen) haften dem Kläger grundsätzlich als Gesamtschuldner in vollem Umfang. Die Haftung kann jedoch im Rahmen der - im Revisionsverfahren nur eingeschränkt überprüfbaren (vgl. dazu etwa Senatsurteil vom 13. Dezember 2016 - VI ZR 32/16, VersR 2017, 374 Rn. 8 mwN) - Abwägung nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB entfallen, wenn die im Vordergrund stehende Schadensursache ein grob verkehrswidriges Verhalten des Geschädigten darstellt (st. Rspr., vgl. Senatsurteile vom 24. September 2013 - VI ZR 255/12, VersR 2014, 80 Rn. 7; vom 13. Februar 1990 - VI ZR 128/89, VersR 1990, 535, 536, juris Rn. 20; vom 18. März 1969 - VI ZR 242/67, VersR 1969, 571, 572, juris Rn. 16; vom 12. Oktober 1965 - VI ZR 81/64, VersR 1966, 39; vom 21. Dezember 1955 - VI ZR 63/55, VersR 1956, 238 f.). Für diese Abwägung ist von Bedeutung, ob den Beklagten zu 1 ein Schuldvorwurf hinsichtlich der Verursachung des Unfalls trifft.
Rz. 10
2. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1 verneint, weil er weder entgegen § 3 Abs. 1 StVO mit einer den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren sei noch gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen habe, sind jedoch rechtsfehlerhaft. Sie beruhen auf der Prämisse, eine Reaktionspflicht des Beklagten zu 1 habe erst zu dem Zeitpunkt bestanden, als der Kläger den Mittelstreifen überquerte und in die vom Beklagten zu 1 genutzte Fahrbahn geriet, weil ein Fahrzeugführer nicht damit zu rechnen brauche, dass ein Fußgänger das Überqueren einer mehrspurigen Straße über die Mittellinie hinaus fortsetze, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe sei. Damit überdehnt das Berufungsgericht den Vertrauensgrundsatz, der jedenfalls auf der Grundlage der hier getroffenen Feststellungen nicht zu Gunsten des Beklagten zu 1 herangezogen werden kann.
Rz. 11
a) Nach dem im Straßenverkehr geltenden Vertrauensgrundsatz kann ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäß verhält, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet, solange die sichtbare Verkehrslage zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt (vgl. nur Senatsurteile vom 20. September 2011 - VI ZR 282/10, NJW-RR 2012, 157 Rn. 9; vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785, juris Rn. 16 mwN; vom 3. Dezember 1991 - VI ZR 98/91, VersR 1992, 203, 204, juris Rn. 13 mwN; vom 15. Mai 1973 - VI ZR 62/72, VersR 1973, 765, 766, juris Rn. 13; vom 24. November 1959 - VI ZR 213/58, VersR 1960, 495, 496; BGH, Urteil vom 15. März 1956 - 4 StR 74/56, BGHSt 9, 92, 93 f., juris Rn. 9; Beschlüsse vom 27. Mai 1959 - 4 StR 49/59, BGHSt 13, 169, 172, juris Rn. 12; vom 12. Juli 1954 - VGS 1/54, BGHZ 14, 232, 237). Der Kraftfahrer ist dabei grundsätzlich auch bei breiteren Straßen verpflichtet, die gesamte Straßenfläche vor sich zu beobachten (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 1987 - VI ZR 19/86, NJW 1987, 2378, juris Rn. 18 mwN).
Rz. 12
Dementsprechend muss ein Kraftfahrer am Fahrbahnrand befindliche oder vor ihm die Fahrbahn überquerende Fußgänger im Auge behalten und in seiner Fahrweise erkennbaren Gefährdungen Rechnung tragen (vgl. Senatsurteile vom 24. Februar 1987 - VI ZR 19/86, NJW 1987, 2377, juris Rn. 18 mwN; vom 7. Juli 1959 - VI ZR 154/58, VersR 1959, 833; vom 11. Dezember 1956 - VI ZR 267/55, VersR 1957, 128). Er braucht aber weder damit zu rechnen, dass ein erwachsener Fußgänger versuchen wird, kurz vor seinem Fahrzeug die Fahrbahn zu betreten, noch darauf gefasst zu sein, dass ein Fußgänger, der beim Überschreiten der Fahrbahn vor oder in der Mitte der Straße anhält, unerwartet weiter in seine Fahrbahn laufen werde, solange er bei verständiger Würdigung aller Umstände keinen Anlass hat, an dem verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln (vgl. Senatsurteile vom 21. Mai 1968 - VI ZR 19/67, VersR 1968, 848, 849, juris Rn. 10; vom 7. Februar 1967 - VI ZR 132/65, VersR 1967, 457, 458, juris Rn. 18 f.; vom 24. November 1959 - VI ZR 213/58, VersR 1960, 495, 496; vom 7. Juli 1959 - VI ZR 154/58, VersR 1959, 833; vom 11. Dezember 1956 - VI ZR 267/55, VersR 1957, 128; BGH, Urteile vom 22. Januar 1960 - 4 StR 540/59, BGHSt 14, 97, 99, juris Rn. 6 mwN; vom 15. März 1956 - 4 StR 74/56, BGHSt 9, 92, 94, juris Rn. 9).
Rz. 13
Hat - wie im Streitfall - ein aus Sicht des Kraftfahrers von links die Fahrbahn querender Fußgänger die Fahrbahn bereits betreten und ist noch in Bewegung, darf der Kraftfahrer nach der Senatsrechtsprechung nicht in jedem Fall darauf vertrauen, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehenbleiben und ihn vorbeilassen (vgl. Senatsurteile vom 24. Februar 1987 - VI ZR 19/86, NJW 1987, 2377, juris Rn. 20; vom 29. April 1975 - VI ZR 225/73, VersR 1975, 858, 859, juris Rn. 12; vom 3. Mai 1966 - VI ZR 178/65, VersR 1966, 736, 737, juris Rn. 15; vom 26. Mai 1964 - VI ZR 52/63, VersR 1964, 846 f.). Richtig handelt zwar ein Fußgänger, der beim Überschreiten einer belebten und nicht allzu schmalen Straße zunächst, soweit es der von links kommende Verkehr gestattet, bis zur Mitte geht und dort wartet, bis er auch die andere Fahrbahnhälfte überqueren kann (vgl. Senatsurteile vom 29. April 1975 - VI ZR 225/73, VersR 1975, 858, 859, juris Rn. 12; vom 7. Juni 1966 - VI ZR 255/64, VersR 1966, 873, 874, juris Rn. 22). Ob der Kraftfahrer darauf immer nur dann vertrauen darf, wenn er sicher sein kann, dass der Fußgänger ihn gesehen und sich erkennbar auf die Verkehrslage eingestellt hat, wie der Senat in seinem Urteil vom 29. April 1975 - VI ZR 225/73 formuliert hat (VersR 1975, 858, 859, juris Rn. 12), kann im Streitfall dahinstehen. Jedenfalls ist nach den oben genannten allgemeinen Grundsätzen dem Vertrauen darauf, der Fußgänger werde an einer vorhandenen Mittellinie anhalten und das bevorrechtigte Fahrzeug passieren lassen, dann die Grundlage entzogen, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände Anlass für den Kraftfahrer besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln, wie es im Übrigen auch in dem vom Senat in seinem oben genannten Urteil vom 29. April 1975 zu entscheidenden Sachverhalt der Fall war.
Rz. 14
b) Derartige Anhaltspunkte lagen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Streitfall vor. Das Berufungsgericht hat die Behauptung des Klägers, er sei lediglich gegangen, für widerlegt erachtet und ist auf der Grundlage der Beweisaufnahme entsprechend dem Vortrag der Beklagten davon ausgegangen, dass der Kläger die Brücke rennend überquert hat, ohne anzuhalten. Da das Berufungsgericht offen gelassen hat, ob die Sicht des Beklagten zu 1 auf den Kläger - wie von den Beklagten behauptet - durch ein entgegenkommendes Fahrzeug behindert wurde, ist im Revisionsverfahren ferner davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1 bei ordnungsgemäßer Beobachtung der gesamten Straßenfläche das Verhalten des Klägers ab dem Betreten der Fahrbahn wahrnehmen konnte. Dass der Kläger beim Überqueren der Straße hätte erkennen lassen, den Beklagten zu 1 gesehen zu haben, etwa indem er in dessen Richtung blickte, oder die Parteien dies behauptet hätten, ist vom Berufungsgericht nicht festgestellt. Unter diesen Umständen durfte der Beklagte zu 1 nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht darauf vertrauen, der Kläger werde ihn passieren lassen. Vielmehr musste der Beklagte zu 1 die Möglichkeit berücksichtigen, dass der Kläger seinen Lauf über die Fahrbahn bei Erreichen der Mittellinie nicht abrupt abbrechen würde, sondern die Brücke unter Verstoß gegen seine sich aus § 25 Abs. 3 StVO ergebende Pflicht, den Fahrzeugverkehr zu beachten, in einem Zug noch vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 überqueren wollte. Hierauf hätte er sein Fahrverhalten einstellen müssen.
III.
Rz. 15
Die angegriffene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Seiters |
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Oehler |
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Müller |
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Allgayer |
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Böhm |
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Fundstellen
Haufe-Index 15697699 |
NJW 2023, 2108 |
JR 2024, 403 |
ZAP 2023, 524 |
DAR 2023, 428 |
DAR 2023, 448 |
VRS 2023, 195 |
ZfS 2023, 490 |
NJW-Spezial 2023, 362 |
SVR 2023, 420 |
VRR 2023, 7 |
r+s 2023, 455 |