Norbert Marten, Dipl.-Phys. Klaus Schmedding
Rz. 23
Die innerstädtisch sehr häufig anzutreffende Variante des Fahrradunfalls ist der Überrollvorgang durch ein z.B. nach rechts einbiegendes Nutzfahrzeug, da die Sichtmöglichkeiten des Lkw-Fahrers stark eingegrenzt sind. Hier kann auf den Abschnitt "Der Nutzfahrzeugunfall" (siehe Rn 65 ff.) verwiesen werden. In aller Regel befindet sich rechts des Lkw (Radwegbereich) eine nur sehr schwer oder gar nicht einsehbare Verkehrszone, die ursächlich dafür ist, dass im Abbiegevorgang der Radfahrer erfasst und unter den Lkw gezogen wird.
Rz. 24
Eine weitere typische Konstellation ist der von einem Pkw oder Lkw im Frontbereich quer, schräg oder in paralleler Ausrichtung erfasste Radfahrer.
Das Bewegungsverhalten von Fahrrad und Aufsasse ähnelt jenem des "Single-Fußgängers", mit dem einzigen Unterschied, dass natürlich die Aufschöpfbewegung oder die Aufwurfweite (siehe Rn 3 ff.) beim Fahrradfahrer deutlich größer ausfällt, da er auf dem Fahrrad sitzt, also eine hohe Schwerpunktsposition inne hat. Demzufolge wird der Radfahrer schon bei geringen Anstoßgeschwindigkeiten des ihn quer oder von hinten anfahrenden Pkw weit bis auf den Vorbau aufgeschöpft, was bedeutet, dass das Erreichen z.B. der Dachkante (Kopfanstoß) schon bei normalen Stadtgeschwindigkeiten problemlos möglich ist.
Rz. 25
Eine weitere Anstoßkonstellation ist die, bei der der Radfahrer z.B. in einen den Radweg versperrenden Pkw hineinfährt – hier ähnelt dann der Bewegungsablauf des Radfahrers schon stark dem des Motorradfahrers, mit dem kleinen Unterschied, dass die gesamte Bewegungsenergie von Fahrrad inkl. Aufsassen einem Motorrad deutlich unterlegen ist. Dies liegt nicht zuletzt an der wesentlich geringeren Masse und den in aller Regel auch deutlich geringeren Bewegungsgeschwindigkeiten von Radfahrern.
Rz. 26
Wird ein Radfahrer von der Front eines Pkw erfasst, so ist das Bewegungsverhalten des Radfahrers jenem eines im Vergleich dazu erfassten Fußgängers nicht unähnlich. Auch hier werden sog. Wurfweiten (Differenzstrecke zwischen Kollisionsort und Endlage), Aufschöpfweite (Abwicklungslänge beim Fußgängerunfall) etc. betrachtet. Gemeinhin kann man als Faustregel formulieren, dass der vollständig von einem Pkw erfasste Radfahrer ab etwa 30 km/h eine höhere Wurfweite erleidet als das Zweirad.
Abb. 5.17
Quelle: www.crashtest-service.com
Rz. 27
Wie ein Pkw-/Radfahrerunfall abläuft, kann durch einen Crashversuch näher beschrieben werden, Abb. 5.17. Dort erfasste ein Audi A4 mit einem Tempo von 27,4 km/h einen unter 90° quer dazu angeordneten Dummy, der auf einem Rennrad saß. Ausgangs der Kollision waren am Pkw nur leichte Schäden zu erkennen – diese beschränkten sich im Wesentlichen auf kleine Dellen auf der Motorhaube und entsprechende Kratz- und Schürfspuren. An der Stoßfängerkontur waren ebenfalls leichte Belastungen zu sehen.
Am Rennrad kam es zu Durchbiegungen am Vorder- und Hinterrad – der Rahmen wurde leicht verformt.
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Quelle: www.crashtest-service.com |
In der Seitenansicht (Videomitschnitt) ist das Bewegungsverhalten von Pkw und Radfahrer samt Fahrrad gut nachvollziehbar. In der Abb. 5.18a hat sich das Fahrrad von den Aufstandspunkten auf der Straße gelöst – es bildet mit dem Aufsassen (Dummy) zur Frontstruktur des Pkw einen etwa 45°-Winkel. Kurze Zeit später (0,16 s) prallt der Dummy mit dem Kopf auf die Abschlusskante der Motorhaube/Übergang zur Windschutzscheibenunterkante. In dieser Phase befindet sich das Fahrrad noch zwischen den unteren Gliedmaßen des Aufsassen. Etwa 0,5 s später, Abb. 5.18c, rutscht der Dummy aufgrund der vom Pkw-Fahrer eingeleiteten Verzögerung nach vorne von der Motorhaube herunter – er hat sich hier vollständig vom Fahrrad getrennt, das eine höhere Abwurfposition erreicht.
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Quelle: www.crashtest-service.com |
Schlussendlich schlägt dann der Dummy wie auch das Fahrrad etwa 1,3 s nach dem Erstkontakt auf die Fahrbahnoberfläche auf – hier kommt es, in Übereinstimmung mit dem Fußgängerunfall, zur Wechselwirkung mit dem harten Untergrund, also der Straße. Auch hier können erhebliche Verletzungen entstehen.