Rz. 97
Gemäß Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG wird eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG in Höhe von 0,5 bis 0,75 nach dem in das Verfahren eingegangenen Gegenstandswert auf die Verfahrensgebühr angerechnet. Danach erfolgt eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die im gerichtlichen Verfahren zum gleichen Gegenstand entstehende Verfahrensgebühr zur Hälfte, höchstens jedoch mit 0,75. Bei Betragsrahmengebühren beträgt der Anrechnungsbetrag höchstens 175 EUR. Nach der Einführung des RVG hat diese Anrechnung zu einigen Unsicherheiten geführt. Nach Ansicht des BGH war nach dem Gesetzeswortlaut in VV Vorb. 3 Abs. 4 die gerichtliche Verfahrensgebühr zu mindern, nicht hingegen die vorgerichtliche Geschäftsgebühr. Ob ein materiell-rechtlicher Anspruch auf Erstattung der Geschäftsgebühr seitens der obsiegenden Partei gegen den Prozessgegner bestand, war aus Sicht des BGH ohne Belang. Weiter war es nach der Rechtsprechung unerheblich, ob dieser Anspruch geltend gemacht, tituliert oder sogar bereits beglichen war. Maßgeblich wäre einzig und allein, ob bzw. in welcher Höhe eine Geschäftsgebühr angefallen war. Daraufhin wurde § 15a RVG durch das Gesetz zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30.7.2009 eingeführt. Das Gesetz wurde am 4.8.2009 verkündet. § 15a RVG trat am 5.8.2009 in Kraft (BGBl I 2009, 2449).
Rz. 98
§ 15a RVG regelt nicht, welche Gebühren aufeinander anzurechnen sind, sondern bestimmt welche Folgen eine solche Anrechnung im Innenverhältnis bzw. im Verhältnis zu ersatz- oder erstattungspflichtigen Dritten hat. Hierdurch wurden seitens des Gesetzgebers die Unsicherheiten, die durch die Rspr des BGH seit dem 7.3.2007 (VIII ZR 86/06) zur Verfahrensweise bei der im Gesetz vorgesehenen Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr entstanden waren, beseitigt. Die Vorschrift des § 15a RVG gibt ein Wahlrecht dahingehend, die Hälfte der Geschäftsgebühr im Klagewege geltend zu machen und die volle Verfahrensgebühr im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens festsetzen zu lassen. Dieser Weg ist dann vorteilhaft und ratsam, wenn dem Mandanten für die vorgerichtlich entstandenen Kosten kein materieller Erstattungsanspruch, z.B. aus Verzugsgesichtspunkten, zur Seite steht.
Rz. 99
Besteht seitens des Mandanten sowohl ein materiell-rechtlicher Ersatzanspruch für die Geschäftsgebühr als auch ein prozessrechtlicher Erstattungsanspruch für die Verfahrensgebühr, hat der Mandant die Möglichkeit, die volle Geschäftsgebühr einzuklagen, die Verfahrensgebühr kann dann allerdings nur unter Anrechnung der Geschäftsgebühr festgesetzt werden. Es besteht jedoch auch hier die Möglichkeit, die halbe Geschäftsgebühr einzuklagen und im Rahmen der Kostenfestsetzung die volle Verfahrensgebühr festsetzen zu lassen.
Für den Fall, dass eine materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage für die Erstattung der außergerichtlichen Geschäftsgebühr gegeben ist, ist der Rechtsanwalt verpflichtet zum Grund sowie zur Höhe der außergerichtlich entstandenen Gebühr umfassend vorzutragen. Nach wie vor ist es unzutreffend, wenn argumentiert wird, bei einer Gebühr von 1,3 seien Ausführungen zu den Bewertungskriterien von § 14 Abs. 1 RVG überflüssig.
Bei mehreren Gebührentatbeständen bildet die zuletzt entstandene Gebühr die Grundlage der Anrechnung. Eine Anrechnung erfolgt dann nicht, wenn die Gebühr in einem gerichtlichen oder behördlichen Verfahren entstanden ist bzw. weder ein innerer noch ein zeitlicher Zusammenhang besteht. Es besteht dann kein innerer Zusammenhang, wenn Gegner und Gegenstand verschieden sind. Eine Anrechnung scheidet auch dann aus, wenn zwischen der gebührenauslösenden ersten Tätigkeit und der zweiten Tätigkeit ein Zeitraum von mehr als zwei Kalenderjahren liegt. Wurde die Vergütung der ersten Tätigkeit noch nach den Vorschriften der BRAGO berechnet, scheidet eine Anrechnung ebenfalls aus. Wurde seitens der obsiegenden Partei eine Vergütungsvereinbarung im Hinblick auf die außergerichtliche Tätigkeit abgeschlossen, kommt eine Anrechnung ebenfalls nicht in Betracht.
Eine Anrechnung erfolgt jedoch sowohl dann, wenn der Rechtsanwalt erst gerichtlich und dann außergerichtlich als auch dann, wenn der Anwalt erst außergerichtlich und dann gerichtlich tätig wird. Gebühren, die im Rahmen eines Erbscheinsverfahrens entstanden sind, lösen keine Anrechnungspflicht aus, wenn anschließend Erbenfeststellungsklage vor dem Zivilgericht erhoben wird.
Da der Rechtsanwalt berechtigt ist, beide Gebühren zu verlangen, allerdings nicht mehr, als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren, kann die Auslagenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG für jede Gebühr in Rechnung gestellt werden.
Beispiel
Gegenstandswert: 50.000 EUR
(davon wurden 30.000 EUR außergerichtlich durchgesetzt, die restlichen 20.000 EUR gerichtlich eingeklagt).
1,3 Geschäftsgebühr §§ 13, 14... |