Rz. 86
Einigkeit in Rechtsprechung und Literatur besteht weitestgehend im Ergebnis: Auch der Vorerbe kann nacherbschaftsfrei Gegenstände aus dem Nachlass erhalten. Es bedarf dabei stets der Mitwirkung aller Nacherben. Da es für die Übertragung an Dritte keiner Zustimmung der Ersatznacherben bedarf, wird eine solche auch bei der Übertragung von einzelnen Nachlassgegenständen auf den Vorerben nicht für erforderlich gehalten. Der Ersatznacherbe hat eine gegenüber dem Nacherben schwächere Position, die in der Anordnung des Erblassers selbst beruht. Ihm wurde ausdrücklich nur eine "Ersatzposition" zugewiesen. Sind unbekannte Nacherben vorhanden, ist auch für dieses Geschäft ein Pfleger i.S.v. § 1882 S. 2 BGB zu bestellen. Allein der konstruktive Weg bleibt umstritten.
Rz. 87
Die Frage nach der dogmatischen Grundlage für dieses Ergebnis hat in der Literatur einen Meinungsstreit entfacht. In der Literatur und aktuellen Rechtsprechung wird – trotz zuzugestehender Unterschiede – in Anlehnung an das Testamentsvollstreckungs- und Insolvenzrecht zu Recht eine Freigabeerklärung der Nacherben für erforderlich gehalten. Für die Praxis ist derzeit daher von dem Erfordernis einer Freigabeerklärung auszugehen, welche in Anlehnung an Keim und die Rechtsprechung folgende Voraussetzungen erfüllen muss:
Rz. 88
Die Freigabeerklärung knüpft an die Auseinandersetzung der Mitvorerbengemeinschaft an und löst den im Rahmen der Auseinandersetzung erhaltenen Gegenstand eines Mitvorerben aus dem nacherbschaftlich gebundenen Vermögen des Vorerben und überführt ihn in sein Eigenvermögen. Der Vorerbe, der den Eigenerwerb anstrebt, vereinbart mit seinen Nacherben zusätzlich das Ausscheiden des Nachlassgegenstandes aus der Nacherbenbindung.
Notwendig ist ein Freigabeverlangen des Vorerben in der Auseinandersetzungsvereinbarung: Zwar erklärt der Nacherbe die Freigabe einseitig. Nach zutreffender Ansicht kann ein Nachlassgegenstand dem Vorerben aber nicht aufgezwängt werden, weshalb auch ein Freigabeverlangen des Vorerben aufgenommen werden sollte.
Rz. 89
Für eine wirksame Freigabe ist die Mitwirkung Dritter notwendig. Alle Mitnacherben, weitere Nacherben und bedingt eingesetzte Nacherben müssen den Gegenstand aus der Nacherbenbindung freigeben. Eine Freigabe der Ersatznacherben hingegen ist nicht erforderlich. Sind unbekannte Nacherben vorhanden, ist auch für die Freigabeerklärung ein Pfleger i.S.v. § 1882 S. 2 BGB zu bestellen.
Rz. 90
Inhaltlich muss die Freigabeerklärung klar zum Ausdruck bringen, dass sich die Nacherbenrechte an dem Nachlassgegenstand nicht weiter fortsetzen. Dies ist notwendig zur Abgrenzung der Freigabeerklärung von der Zustimmungserklärung der Nacherben, welche die Nacherbfolge unberührt lässt.
Rz. 91
Die Freigabeerklärung ist formfrei möglich. Ein Formerfordernis kann sich aus grundbuchrechtlichen Aspekten ergeben, § 29 GBO. Bei der Freigabe von Grundstücken an einen Vorerben ist keine Auflassung notwendig, da es an der für eine Auflassung notwendigen Übertragung des Grundstücks auf einen anderen Rechtsträger fehlt. Inhaber des Grundstücks ist und bleibt der Vorerbe. Es findet lediglich ein Übergang des Grundstücks vom Sondervermögen in das Eigenvermögen des Vorerben statt, welches kein Sondervermögen ist.
Rz. 92
Sind die Voraussetzungen der Auseinandersetzung der Mitvorerbengemeinschaft erfüllt, wird der Nachlassgegenstand auf den Mitvorerben übertragen und fällt als Surrogat in den Nachlass. Rechtsfolge der zusätzlichen Freigabevereinbarung zwischen Vor- und Nacherben ist das Ausscheiden des zunächst als Surrogat in den Nachlass gelangten Gegenstandes.
Rz. 93
Umstritten ist, ob dem Eigenerwerb des Vorerben in Sonderfällen Grenzen gesetzt werden müssen. Diskutiert werden Sonderregeln, die sich unter den Begriffen "Totalüberführung" und "Quasi-Totalüberführung" zusammenfassen lassen. Im ersten Fall wird der einzige Nachlassgegenstand übertragen, wohingegen im zweiten Fall "nahezu der gesamte Nachlass" im wirtschaftlichen Sinne übertragen wird. Da in der Praxis häufig Immobilien auf einen Vorerben übertragen werden sollen, die den zentralen Wert der Erbschaft ausmachen, kommt es entscheidend darauf an, ob dem Eigenerwerb des Vorerben derartige Grenzen gesetzt werden sollten.
Das OLG Düsseldorf hat jüngst mehrfach zu dieser Frage Stellung genommen und sich letztlich für eine Sonderregel im Falle einer Totalübertragung entschieden. In diesem Fall bedürfe es auch der Zustimmung der Ersatznacherben. Grund sei ein Schutzbedürfnis der Ersatznacherben sowie eine wirtschaftliche Identität zu den Fällen der Übertragung des Nacherbenanwartschaftsrechts, weshalb diese Fälle gleichbehandelt werden müssten. Den Fall der Quasi-Totalüberführung behandelte das OLG Düsseldorf zunächst gleich, nahm jedoch schnell von dieser Sonderregel Abstand. Bei einer Quasi-Totalübertragung bedürfe es keiner weiteren Sonderregel. Das OLG Düsseldorf reagierte dabei a...