André Schah-Sedi, Dr. Michael Nugel
Rz. 9
Der Verteidiger sollte von vornherein das angestrebte Ziel der Verteidigung, z.B. Einstellung des Verfahrens ohne Bußzahlung, gegen Bußzahlung oder Freispruch, im Auge haben und hierauf die Verteidigungsstrategie ausrichten.
Empfehlenswert ist es, grds. eine Einlassung erst nach Einsicht in die Ermittlungsakten vorzulegen. Etwas anderes kann geboten sein, wenn der Mandant durch Führerscheinmaßnahmen, z.B. Beschlagnahme des Führerscheins oder vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, belastet ist. In diesem Falle sollte bei entsprechender Klärung des Sachverhaltes so schnell wie möglich eine Einlassung vorgelegt werden, um eine Überprüfung der Maßnahme zu erreichen.
Auch kann es unter gebührentechnischen Gesichtspunkten im Ordnungswidrigkeitenverfahren geboten sein, frühzeitig zu bestreiten, dass der Mandant den ihm zur Last gelegten Vorwurf begangen hat. Stellt daraufhin die Behörde das OWi-Verfahren ein, ohne dass der Verteidiger weiter tätig wird, genügt diese Einlassung, um i.d.R. eine Befriedigungsgebühr auszulösen.
Der Verteidiger hat nach § 147 StPO ein Recht auf Akteneinsicht. Der Verteidiger kann auch die Versendung einer Kopie des Videobandes verlangen, das bei einer polizeilichen Verkehrsüberwachung einen vorgeworfenen Verkehrsverstoß dokumentiert. Die Ablehnung der Übersendung oder die unterbliebene Übersendung kann unter Umständen sogar eine Entschuldigung sein für das Ausbleiben in der Hauptverhandlung.
Grundsätzlich hat der Verteidiger ein Recht auf vollständige Akteneinsicht. Sämtliche Unterlagen, die für die Messung bzw. die Messwertbildung von Bedeutung sind, sind dem Verteidiger zu überlassen; hierzu zählen u.a. das Messprotokoll, das Messfoto, der gesamte Messfilm, etwaige Videoaufnahmen, in einer Messdatei verschlüsselte Messdaten, der Eichschein, sämtliche Schulungsmaßnahmen, die Gebrauchsanleitung, die Zulassung des Gerätes sowie die Lebensakte.
Bei der Akteneinsicht muss der Verteidiger auf § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG (Mess- und Eichgesetz) achten. Nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG hat derjenige, der ein Messgerät verwendet, sicherzustellen, dass jegliche Nachweise über Wartungen und Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät dokumentiert sind und bis zu fünf Jahre aufbewahrt werden. Sämtliche noch so kleine Eingriffe und Reparaturen an dem jeweiligen Messgerät müssen daher in einer entsprechenden Liste vollständig vermerkt sein. Durch diese Regelung im Mess- und Eichgesetz soll gewährleistet sein, dass jeder Eingriff am Messgerät, der sich auf die Messrichtigkeit oder aber die Messbeständigkeit auswirken kann, nachgewiesen werden kann.
Hier bietet sich für den Verteidiger im Zusammenhang mit einem Sachverständigen die Möglichkeit, das jeweilige Messergebnis anzugreifen. Einige Behörden führen solche Listen überhaupt nicht, andere Behörden führen solche Listen insbesondere unvollständig. Oftmals werden nur die Eichungen oder aber die eichrelevanten Eingriffe am Messgerät in einer entsprechenden Liste genannt. Damit eine solche Liste aber den Anforderungen nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG entspricht, muss nicht nur der Grund für die Wartung und Reparatur genannt werden, sondern es müssen auch sämtliche ausgetauschte oder reparierte Teile benannt werden.
Der Verteidiger sollte also darauf drängen, dass insbesondere in dem Zeitraum von der letzten Eichung des Messgerätes bis unmittelbar nach der Messung des Mandanten jede Wartung, Reparatur oder jeder sonstige Eingriff am Messgerät aufgelistet ist, und bei Versäumnissen entsprechend hierzu vortragen.
Verweigern die Verwaltungsbehörde und das Gericht die vom Rechtsanwalt beantragte Einsichtnahme in diese Unterlagen, liegt nach dem OLG Brandenburg ein mit der Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO angreifbarer Verstoß gegen ein faires Verfahren vor.
Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020. Mit diesem Beschluss hat das BVerfG betont, dass der Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens ein aus Art. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitetes Recht auf ein faires Verfahren hat. Aus diesem Recht auf ein faires Verfahren hat der Betroffene grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Der Verteidiger sollte aber rechtzeitig bereits gegenüber der Bußgeldstelle die von ihm für notwendig erachteten Unterlagen anfordern. Stellt die Bußgeldbehörde die begehrten Unterlagen nicht zur Verfügung, muss der Verteidiger einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG stellen. Lehnt das Gericht diesen Antrag ab, sollte sich der Verteidiger auf den Beschluss des BVerfG v. 12.11.2020 berufen.
Auch sind dem Verteidiger eigene Ermittlungen möglich. Ein eigenes Ermittlungsrecht des Verteidigers ist gesetzlich nicht ausdrücklich normiert, es ist aber gem. § 6 Abs. 1 der Richtlinien des anwaltlichen Berufsrechtes grds. zulässig: "Der Anwalt darf Personen, die als Zeugen in Betracht kommen, außergerichtlich über ihr W...