Peter Houben, Dr. Stephan Karlsfeld
Rz. 134
Das ArbG kann den Arbeitgeber auf dessen Antrag durch einstweilige Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung in den folgenden drei Fällen entbinden (§ 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG):
(1) |
Die Kündigungsschutzklage bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg oder erscheint gar mutwillig. |
(2) |
Die Weiterbeschäftigung würde zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen. |
(3) |
Der Widerspruch des Betriebsrats ist offensichtlich unbegründet. |
Rz. 135
Die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht ist wie bei der Prüfung im Prozesskostenhilfeverfahren nach § 114 ZPO summarisch vorzunehmen. Ergibt die Bewertung, dass für beide Parteien des Kündigungsschutzprozesses gleichermaßen eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn der Ausgang des Kündigungsrechtsstreites also offen ist, kann von der Weiterbeschäftigungspflicht nicht entbunden werden (APS/Koch, § 102 BetrVG Rn 220).
Rz. 136
Die Entbindung wegen unzumutbarer wirtschaftlicher Belastung erfordert, dass der Arbeitgeber glaubhaft macht, die mit der Weiterbeschäftigung verbundene Zahlung der Arbeitsvergütung führe zu einer Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung oder es drohe ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen (APS/Koch, § 102 BetrVG Rn 222).
Rz. 137
Offensichtlich unbegründet ist der Widerspruch des Betriebsrats, wenn sich die Fehlerhaftigkeit der Begründung geradezu aufdrängt. Das ist z.B. dann der Fall, wenn bei einer krankheitsbedingten Kündigung der Betriebsrat wegen fehlerhafter Sozialauswahl widerspricht oder auf eine Auswahlrichtlinie hinweist, die es gar nicht gibt.
Rz. 138
Zu beachten ist, dass sich die Frage der offensichtlichen Unbegründetheit überhaupt nicht stellt, wenn der Widerspruch des Betriebsrates nicht ordnungsgemäß ist, weil er z.B. gar keine "Mindestbegründung" (vgl. Rdn 129 f.) enthält, sondern lediglich den Gesetzestext formelhaft wiederholt. Bei nicht ordnungsgemäßem Widerspruch kann der Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG nicht entstehen, der Arbeitgeber folglich auch nicht von einer "Weiterbeschäftigungspflicht" entbunden werden. Hat er bei einer solchen Fallgestaltung den Arbeitnehmer, weil er im Zweifel über die Wirksamkeit des Widerspruches war, gleichwohl weiterbeschäftigt, ist nach zutreffender herrschender Meinung eine entsprechende Anwendung des Entbindungsverfahrens geboten (APS/Koch, § 102 BetrVG Rn 224).
Rz. 139
Die gesetzlich vorgegebene Rollenverteilung, die es dem Arbeitgeber auferlegt, sich bei seiner Meinung nach vorliegenden "Entbindungsgründen" von der Weiterbeschäftigungspflicht ggf. durch einstweilige Verfügung befreien zu lassen, wird in der Praxis vielfach nicht eingehalten. Der Arbeitgeber wählt nicht diesen Weg, sondern beschäftigt den Arbeitnehmer schlicht nicht weiter, sodass dieser gezwungen ist, die Initiative für die Durchsetzung seines betriebsverfassungsrechtlich gestützten Weiterbeschäftigungsanspruches – etwa über eine einstweilige Verfügung – zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund verdient die Rechtsmeinung Unterstützung, die es dem Arbeitgeber verwehrt, sich im gerichtlichen Durchsetzungsverfahren des Weiterbeschäftigungsanspruches auf solche Gründe zu berufen, die eine Entbindung von der Weiterbeschäftigung rechtfertigen könnten (LAG Schleswig-Holstein v. 5.3.1996, LAGE, § 102 BetrVG Beschäftigungspflicht Nr. 23; LAG München v. 16.8.1995, LAGE, § 102 BetrVG Beschäftigungspflicht Nr. 22).