Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 31
Für die Beantwortung der Frage, ob es zur Berufungsbegründung ausreicht, auf das Vorbringen erster Instanz, auf beigezogene Akten o.Ä. Bezug zu nehmen, kommt es darauf an, unter welchem Gesichtspunkt die Frage gestellt wird. Geht es darum, welchen Anforderungen die innerhalb der Begründungsfrist einzureichende Begründung genügen muss, um den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO zu entsprechen, lautet die Antwort, dass generell eine pauschale Bezugnahme nicht ausreichend ist.
Es kann also nicht schlechthin auf das Vorbringen erster Instanz verwiesen werden: Denn dieser Vortrag ist nicht in Kenntnis der angefochtenen Entscheidung erfolgt und kann deshalb auch nichts darüber aussagen, weshalb diese angegriffen wird. Konkrete Bezugnahmen sind jedoch möglich, auch wenn insoweit "Vorsicht geboten" sein sollte. Wegen der materiellen Funktion des Unterschriftenerfordernisses muss erkennbar sein, dass der Berufungsanwalt sich durch eine Bezugnahme in dem eigenhändig unterschriebenen Schriftsatz den Inhalt des anderen Schriftstücks zu eigen machen will.
Ausreichend dürfte es sein, wenn auf Schriftstücke Bezug genommen wird,
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die sich bei den Akten befinden, |
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die dem Berufungsgegner bekannt sind, |
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die als Berufungsbegründung inhaltlich ausreichen und von einem Anwalt unterschrieben sind. |
Ein solches Schriftstück kann
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eine Berufungsbegründung aus einer Parallelakte sein (wenn eine beglaubigte Abschrift beigefügt ist) |
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oder auch ein Prozesskostenhilfegesuch. |
Nach BGH NJW 1993, 3333 kann auch auf den die Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschluss des BerGer Bezug genommen werden.
Rz. 32
Nicht ausreichend ist hingegen die Bezugnahme auf Schriftsätze aus anderen Rechtsstreitigkeiten ohne Beifügung einer Abschrift des in Bezug genommenen Schriftsatzes; auch dann nicht, wenn die Sache bei demselben Gericht, selbst bei demselben Senat anhängig ist, Parteiidentität besteht und die Parteien in den verschiedenen Verfahren durch dieselben Prozessbevollmächtigten vertreten werden.
Rz. 33
Unerledigte Beweisantritte müssen allerdings für eine zulässige Berufungsbegründung wiederholt werden, wenn sie in der Berufungsinstanz Berücksichtigung finden sollen. Eine pauschale Bezugnahme auf die Beweisantritte erster Instanz reicht grundsätzlich nicht aus.
Aber BGH NJW 1982, 581:
Zitat
Werden Tatsachen, die der Berufungsbeklagte in erster Instanz unter Beweis gestellt hatte und auf die es nach der Beurteilung des Erstrichters nicht ankam, im Berufungsrechtszug infolge einer anderen rechtlichen Beurteilung des BerGer erheblich, so muss letzteres die entsprechenden Beweisanträge des Berufungsbeklagten aus dem ersten Rechtszug jedenfalls beachten, wenn der Berufungsbeklagte pauschal darauf Bezug genommen und das BerGer ihn rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung auf seine, von der des Erstrichters abweichende Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit hingewiesen hat.
Rz. 34
Weitere Einschränkungen:
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Bei nur pauschaler Bezugnahme darf das BerGer nicht einem Teil der erstinstanzlichen Beweisantritte nachgehen und einen anderen Teil als verspätet zurückweisen. |
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Es darf auch nicht einen erstinstanzlichen Sachvortrag verwerten, den dafür angetretenen Beweis aber unbeachtet lassen. |
Rz. 35
BGH NJW 1998, 155, 156 unter Hinweis auf § 139 ZPO:
Zitat
Die Vorschrift des § 139 ZPO dient der Verwirklichung des sachlichen Rechts […]. Sie begründet für das Gericht u.a. die Pflicht, darauf hinzuwirken, dass die Parteien ihre Beweismittel bezeichnen. Dadurch soll […] insbesondere verhindert werden, dass eine Partei, die Beweismittel beibringen kann und will, dies aufgrund eines bloßen Versehens unterlässt. […]
Da die unterlassene Aufklärung nach § 139 ZPO ohnehin zur Aufhebung der mit der Revision angefochtenen Entscheidung führte, hat der BGH die von ihm aufgeworfene Frage offen gelassen, ob angesichts der Besonderheiten des Prozessverlaufs die nicht ausdrücklich wiederholten Beweisantritte als konkludent vorgetragen zu werten seien.
BGH NJW 1998, 155, 156:
Zitat
Denn dem BerGer ist […] jedenfalls insoweit ein Verfahrensfehler unterlaufen, als es von der Beweiserhebung abgesehen hat, ohne zuvor gemäß § 139 Abs. 1 ZPO bei den Klägern nachzufragen, ob sie ihren in erster Instanz gestellten Beweisantrag aufrechterhalten wollten. […]
[E]s [ist] verfahrensfehlerhaft, wenn das BerGer von einer solchen Ausübung des Fragerechts absieht, obwohl keine ausreichenden Anhaltspunkte vorliegen, dass die Partei eine im ersten Rechtszug unter Beweis gestellte Behauptung im zweiten Rechtszug bewusst beweislos lassen will. […]
Generell lässt sich also feststellen, dass die Rspr. zwar an dem Prinzip festhält, dass Beweisantritte erster Instanz von den Parteien zu wiederholen sind, wenn sie fortgelten sollen. In aller Regel wird das Gericht sich aber erkundigen müssen, ob sachdienliche Beweisantritte erster Instanz bewusst fallen gelassen werden.