Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 20
Wie bereits ausgeführt, ist den Anforderungen an die Berufungsbegründung schon genügt (und damit zunächst einmal die Zulässigkeit der Berufung erreicht), wenn das Urteil in irgendeinem Punkt angegriffen wird (oder neue zulässige Tatsachen, Beweismittel oder Beweiseinreden vorgetragen werden). Mindestens das aber muss auch geschehen. Unzulässig ist eine Berufung, mit der eine Klage schon in der Berufungsbegründung auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt, in Wahrheit also eine Änderung der Klage bezweckt wird. Zwar ist in der Berufungsinstanz eine Klageänderung durchaus zulässig, § 533 ZPO; Voraussetzung ist aber, dass mit dem geänderten Sachvortrag zugleich noch wenigstens hilfsweise ein Angriff gegen das angefochtene Urteil geführt wird.
Rz. 21
Das wird an Beispielen aus der Praxis deutlicher.
Beispiel
M hatte vertreten durch Rechtsanwalt R eine Scheckklage gegen G erhoben. Die Klage wurde abgewiesen. Daraufhin nahm M den R in Höhe der Scheckforderung in Anspruch, weil es auf dessen Verschulden zurückzuführen sei, dass er mit seiner Scheckklage unterlegen sei. Auch diese Klage wurde abgewiesen, und zwar mit der Begründung, die Scheckforderung habe gar nicht bestanden, der Rechtsstreit sei also auch nicht zu gewinnen gewesen und dem M könne deshalb durch ein Verschulden des R kein Schaden entstanden sein.
Gegen dieses Urteil legte M eine eingeschränkte Berufung ein und machte nunmehr geltend, er habe in der Tat keinen Anspruch gegen G gehabt. R habe ihm deshalb von der Scheckklage abraten müssen. Indem er das unterlassen habe, habe er schuldhaft die Kosten des Scheckprozesses verursacht. Allein Ersatz dieser Kosten begehrt er jetzt noch mit seiner Berufung.
Die Berufung ist unzulässig, weil nicht geltend gemacht wird, dass das angefochtene Urteil in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht falsch ist, sondern im Gegenteil die Richtigkeit der in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Rechtsansicht zur Grundlage des neuen Klagebegehrens gemacht wird. (Zulässig wäre die Berufung dann gewesen, wenn der Kläger in erster Linie an seiner ursprünglich vertretenen Rechtsansicht festgehalten und sich nur hilfsweise die Rechtsansicht des angefochtenen Urteils zu eigen gemacht hätte.)
Rz. 22
Nach einer ersten Entscheidung des BGH zu dieser Frage sollte es ausreichen, das frühere Klagebegehren hilfsweise weiter zu verfolgen. Diese Auffassung hat der BGH fortgeführt:
BGH NJW-RR 2012, 516:
Zitat
Ein Rechtsmittel ist unzulässig, wenn es den in der Vorinstanz erhobenen Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiter verfolgt und damit die Richtigkeit des angefochtenen Urteils in Frage stellt, sondern lediglich im Wege der Klageänderung einen neuen, bisher nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt. Eine bloße Erweiterung oder Änderung der Klage kann nicht das alleinige Ziel des Rechtsmittels sein. […]
Rz. 23
Ein weiterer Fall aus der Praxis:
Beispiel
Der Kläger macht für einen bestimmten Zeitraum einen Zinsschaden als Hauptforderung geltend. Seine Klage wird abgewiesen. Mit der Berufung rügt er zwar das angefochtene Urteil, verlangt aber jetzt Ersatz des Zinsschadens für einen anderen Zeitraum.
Die Berufung wäre unzulässig, weil die Kritik der angefochtenen Entscheidung kein ausreichender Angriff im Sinne des § 519 ZPO ist, wenn das erstinstanzliche Klageziel nicht weiter verfolgt wird. Sein neues Klagebegehren hatte er aber hinsichtlich eines kleinen Teils auf einen Zeitraum gestützt, der sich mit dem früher geltend gemachten Zeitraum überschnitt. Weil er hinsichtlich dieses (kleinen) Zeitraumes sein erstinstanzliches Klageziel weiter verfolgte, war die Berufung zulässig, und es ist unerheblich, dass er seine Klageforderung in der Berufungsinstanz ganz überwiegend auf einen Zeitraum stützt, der erst jetzt in den Rechtsstreit eingeführt wird. Denn eine Klageänderung in der Berufungsinstanz ist möglich, wenn nur bedacht wird, dass das angefochtene Urteil – auch – angegriffen werden muss.
(Eine andere Frage ist, ob der Gegner der Klageänderung widersprechen und das Gericht dann die Sachdienlichkeit nach § 263 ZPO verneinen kann; das ist aber keine Frage der Zulässigkeit der Berufung.)
Beschränkt wird die Zulässigkeit einer Klageänderung oder -erweiterung durch § 533 Nr. 2 ZPO, welcher eine zulässige Berufung voraussetzt.
Dazu sagt der BGH in NJW-RR 2010, 1286, dass eine Erhöhung des Klagebetrags gem. § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Änderung der Klage anzusehen ist. Der die Berufungsinstanz einschränkende § 533 bezieht sich nur auf Klageänderungen i.S.d. § 263 ZPO, weshalb die Erhöhung des Klagebetrages auch in der Berufungsinstanz zulässig ist. Trotzdem ist bei einer privilegierten Klageänderung in der Berufungsinstanz Vorsicht geboten, BGH NJOZ 2023, 89:
Zitat
Auch wenn eine Änderung des Klageantrags in der Berufungsinstanz nicht den Beschränkungen des § 533 ZPO unterliegt, weil sie gem. § 264 Nr. 2 und 3 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen ist, ist dazu gehaltener neuer Tatsachenvortrag in der Berufungsins...