Rz. 102
Eine bislang unbefriedigende Lösung erhält man, wenn eine Zuwendung an Abkömmlinge ausgleichungspflichtig und zugleich nach § 2315 BGB anrechnungspflichtig ist und neben den Abkömmlingen noch ein überlebender Ehepartner vorhanden ist. In diesen Fällen kommt es, da der Anteil des Ehepartners bei der Ausgleichung vorab in Abzug zu bringen ist, zu einem ungewollten Ergebnis. Der auf den Ausgleichungserbteil angerechnete Vorempfang wird in diesem Fall nur hälftig berücksichtigt. Es kann daher zu dem Ergebnis kommen, dass eine Vornahme der Ausgleichung nach § 2316 Abs. 4 BGB und eine hälftige Anrechnung des Vorempfangs auf den so ermittelten Pflichtteil zu einem höheren Pflichtteil des Abkömmlings führt als in dem Fall, in dem nur eine Anrechnung auf den Pflichtteil nach § 2315 BGB vorgenommen wird. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies:
Beispiel
Der Erblasser ist im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft verheiratet. Er hat zwei Abkömmlinge, A und B, und seine Ehefrau zur Alleinerbin eingesetzt. Der Nachlass hat einen Wert von 700.000 EUR. Das Kind B hat einen Vorempfang, der zugleich ausgleichungs- und anrechnungspflichtig ist, i.H.v. 100.000 EUR erhalten.
Die Berechnung des Pflichtteils von B ist nun wie folgt vorzunehmen:
Nachlass |
700.000 EUR |
abzgl. ½ Erbteil Ehegatte = |
350.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt |
450.000 EUR |
geteilt durch 2 Abkömmlinge = Ausgleichungserbteil von |
225.000 EUR |
abzgl. Vorempfang von B |
100.000 EUR |
ergibt einen Betrag von |
125.000 EUR |
hieraus ½ Pflichtteil |
62.500 EUR |
Anrechnung nach § 2316 Abs. 4 BGB |
des hälftigen Vorempfangs von 50.000 EUR = |
12.500 EUR |
Würde man nur eine Anrechnung nach § 2315 BGB vornehmen, so würde man zu folgendem Ergebnis kommen: |
Nachlass |
700.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt einen Anrechnungsnachlass von |
800.000 EUR |
hieraus ⅛ Pflichtteil |
100.000 EUR |
abzgl. Vorempfang nach § 2315 BGB |
100.000 EUR |
ergibt |
0 EUR |
Rz. 103
Die Tatsache, dass der Erblasser eine Ausgleichungs- und Anrechnungspflicht getroffen hat, führt hier dazu, dass der Pflichtteilsanspruch des B höher ist, als wenn nur eine Anrechnung nach § 2315 BGB vorgenommen worden wäre.
Rz. 104
Praxishinweis
Sinn und Zweck der Anrechnungsbestimmung des § 2315 BGB ist, dass der Erblasser mit einer anrechnungspflichtigen lebzeitigen Zuwendung eine weitestgehende Testier- und Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf die Pflichtteilsansprüche erwerben kann. Um sicherzugehen, dass die Kombination von Anrechnung und Ausgleichung letztlich nicht zu einem höheren Pflichtteil führt als die alleinige Anrechnung nach § 2315 BGB, sollte die Formulierung bei der Zuwendung des Vorempfangs entsprechend auf den Fall abgestimmt werden, dass ein überlebender Ehepartner vorhanden bzw. nicht vorhanden ist.
Rz. 105
Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man im Übrigen auch dann, wenn die Ehepartner in einem anderen Güterstand als in Zugewinngemeinschaft verheiratet gewesen wären. Hierzu folgendes Beispiel:
Beispiel
Erblasser E war mit F im Güterstand der Gütertrennung verheiratet. Aus ihrer Ehe sind die beiden Kinder A und B hervorgegangen. Das Kind A hat einen ausgleichungs- und anrechnungspflichtigen Vorempfang i.H.v. indexiert 100.000 EUR erhalten. Der Nachlass beträgt 700.000 EUR. Wie berechnet sich der Pflichtteil von A?
Nachlass |
700.000 EUR |
abzgl. Ehegattenerbteil von ⅓ |
233.333 EUR |
Ausgleichungsnachlass |
466.666 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt einen Ausgleichungsnachlass von |
566.666 EUR |
hieraus ½ Ausgleichungserbteil |
283.333 EUR |
abzgl. Vorempfang von |
100.000 EUR |
ergibt einen Ausgleichungserbteil von |
183.333 EUR |
hieraus ½ Pflichtteil |
91.666 EUR |
abzgl. hälftigen Vorempfangs |
50.000 EUR |
ergibt einen Pflichtteil von |
41.666 EUR |
Würde man nur eine Anrechnung nach § 2315 BGB vornehmen, so kommt man zu folgendem Ergebnis: |
Nachlass |
700.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt einen Anrechnungsnachlass von |
800.000 EUR |
hieraus 1/6 Pflichtteil, ergibt |
133.333 EUR |
abzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt einen Pflichtteil von |
33.333 EUR |
Rz. 106
Dieses Beispiel zeigt, dass es auch im Güterstand der Gütertrennung zu einem unbilligen Ergebnis kommt, wenn der Pflichtteilsberechtigte eine ausgleichungs- und anrechnungspflichtige Zuwendung erhält.
Beispiel
Haben die Eheleute im obigen Beispiel (Rdn 105) im Güterstand der Gütergemeinschaft gelebt, ergibt sich folgende Berechnung:
Nachlass |
700.000 EUR |
abzgl. Ehegattenerbteil von ¼ ergibt |
175.000 EUR |
verbleibt ein Ausgleichsnachlass von |
525.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
verbleibt ein Ausgleichsnachlass von |
625.000 EUR |
hieraus ½ ergibt ein Ausgleichungserbteil von |
312.500 EUR |
abzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
verbleibt ein Ausgleichungserbteil von |
212.500 EUR |
hieraus ½ Pflichtteil ergibt |
106.250 EUR |
abzgl. des hälftigen Vorempfangs |
50.000 EUR |
verbleibt ein Pflichtteil von |
56.250 EUR |
Würde nur eine Anrechnung nach § 2315 BGB vorgenommen werden, so kommt man zu folgender Berechnung: |
Nachlass |
700.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt einen Anrechnungsnachlass von |
800.000 EUR |
... |