Rz. 43

BGH, Urt. v. 5.10.2010 – VI ZR 186/08, VersR 2010, 1607

Zitat

ZPO § 287 Abs. 1; BGB § 252

a) Trifft ein Schadensereignis ein jüngeres Kind, über dessen berufliche Zukunft aufgrund des eigenen Entwicklungsstands zum Schadenszeitpunkt noch keine zuverlässige Aussage möglich ist, so kann es geboten sein, dass der Tatrichter bei der für die Ermittlung des Erwerbsschadens erforderlichen Prognose auch den Beruf sowie die Vor- und Weiterbildung der Eltern, ihre Qualifikation in der Berufstätigkeit, die beruflichen Pläne für das Kind sowie schulische und berufliche Entwicklungen von Geschwistern berücksichtigt.
b) Ergeben sich aufgrund der tatsächlichen Entwicklung des Kindes zwischen dem Zeitpunkt der Schädigung und dem Zeitpunkt der Schadensermittlung (weitere) Anhaltspunkte für seine Begabungen und Fähigkeiten und die Art der möglichen Erwerbstätigkeit ohne den Schadensfall, ist auch dies bei der Prognose zu berücksichtigen und von einem dem entsprechenden normalen beruflichen Werdegang auszugehen.

I. Der Fall

 

Rz. 44

Der am 22.4.1977 geborene Kläger nahm den beklagten Gynäkologen wegen eines geburtshilflichen Behandlungsfehlers, der bei ihm zu einem schweren Hörschaden geführt hatte, auf Ersatz von Verdienstausfall in Anspruch. Der seit dem 16.3.2001 arbeitslose Kläger hatte den Realschulabschluss erreicht und eine Ausbildung zum Tischler absolviert. Sein Vater war Maschinenbautechniker mit Weiterqualifikation zum Berufsschullehrer für EDV, sein Bruder, ein ausgebildeter Kommunikationstechniker, war als Projektentwickler der Betriebssysteme tätig.

 

Rz. 45

Durch Urteil des LG vom 23.12.1987, rechtskräftig durch Urteil des Berufungsgerichts vom 29.4.1992, wurde festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wegen dessen bei der Geburt erworbener Hörschädigung alle seit dem 15.1.1985 entstandenen und künftig noch entstehenden materiellen Schäden zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist. Auf dieser Grundlage berechnete der Kläger seinen Verdienstausfallschaden nach der Differenz zwischen dem Nettogehalt, das er nach abgeschlossenem Hochschulstudium der Informationstechnologie hätte erzielen können, und dem tatsächlich erzielten Nettoeinkommen als Tischler bzw. dem von ihm nunmehr bezogenen Arbeitslosengeld.

 

Rz. 46

Das LG hat die darauf gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung des Klägers durch Grund- und Teilurteil den Klageanspruch dem Grunde nach insoweit für gerechtfertigt erklärt, als mit ihm der Verdienstausfallschaden geltend gemacht wird, der sich aus 80 % der Differenz zwischen dem durchschnittlichen Nettoverdienst eines angestellten Tischlergesellen und dem durchschnittlichen Nettoverdienst eines angestellten, nicht akademisch ausgebildeten Kommunikationstechnikers ergibt; die weiter gehende Berufung hat es zurückgewiesen. Dagegen hatten beide Parteien die – vom Berufungsgericht zugelassene – Revision eingelegt.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 47

Die Revisionen beider Parteien hatten keinen Erfolg.

Die Parteien rügten nicht, dass das Berufungsgericht durch Grund- und Teilurteil entschieden hatte. Das war auch nicht zu beanstanden.

 

Rz. 48

Durch das rechtskräftige Urteil des Berufungsgerichts vom 29.4.1992 i.V.m. dem Urteil des LG vom 23.12.1987 war lediglich festgestellt, dass der Beklagte dem Kläger den Verdienstausfallschaden zu ersetzen hat, der diesem wegen der bei seiner Geburt erlittenen Hörschädigung entstanden ist. Weitere Vorgaben zur Beurteilung der haftungsausfüllenden Kausalität ergeben sich daraus nicht.

 

Rz. 49

Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits war, ob der Kläger ohne den vom Beklagten zu vertretenden Behandlungsfehler einen höher qualifizierten und dotierten Beruf ergriffen hätte und welcher Erwerbsschadensbetrag sich gegebenenfalls daraus ergibt. Beide Fragen betreffen die haftungsausfüllende Kausalität. Sie bedürfen aber selbstständiger tatsächlicher Feststellungen. Ist die erste Frage zu verneinen, kommt es auf die zweite Frage nicht mehr an. Bei einer derartigen Sachlage, die bei der Geltendmachung von Erwerbsschäden häufig vorkommt, kann der Erlass eines Grundurteils dazu dienen, die vorrangige Frage durch die Instanzen abschließend zu klären, bevor in eine möglicherweise aufwändige Beweisaufnahme zu der nachrangigen Frage eingetreten wird. Die Voraussetzungen des § 304 ZPO stehen einer solchen Verfahrensweise nicht entgegen. Danach kann das Gericht über den Grund vorab entscheiden, wenn ein Anspruch nach Grund und Betrag streitig ist. Die Vorschrift entspringt prozesswirtschaftlichen Gründen. Bei ihrer Anwendung und Auslegung ist vor allem den Erfordernissen der Prozessökonomie Rechnung zu tragen. Der Erlass eines Grundurteils ist daher unzulässig, wenn dies nicht zu einer echten Vorentscheidung des Prozesses führt. Dieses Kriterium und nicht dogmatische Erwägungen sind deshalb maßgebend dafür, ob in einem Grundurteil nur der materiell-rechtliche Haftungsgrund oder auch die haftungsausfüllende Kausalität – ganz oder zum Teil – abzuhand...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge