Rz. 174
Zitat
BGB § 254 Abs. 2
1. Von einem Geschädigten, der vom Arbeitsamt aufgrund seines Gesundheitszustandes für nicht mehr vermittlungsfähig gehalten wird, kann grundsätzlich keine weitere Eigeninitiative hinsichtlich der Aufnahme von Erwerbstätigkeit erwartet werden. Unter diesen Umständen besteht grundsätzlich auch keine weitere Darlegungslast dazu, was der Geschädigte unternommen hat, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten (Bestätigung Senatsurteil vom 9.10.1990 – VI ZR 291/89, VersR 1991, 437, 438, juris Rn 15 f.).
2. Verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht, weil er es unterlässt, einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Anspruchskürzung kommt grundsätzlich nicht in Betracht (Festhalten an Senatsurteil vom 21.9.2021 – VI ZR 91/19, VersR 2021, 1583 Rn 14).
a) Der Fall
Rz. 175
Der klagende Rentenversicherungsträger verlangte von dem beklagten Kfz-Haftpflichtversicherer aus übergegangenem Recht die Erstattung von Leistungen, die er an seine Versicherte (Geschädigte) aufgrund eines Verkehrsunfalls erbracht hatte.
Rz. 176
Die Geschädigte wurde bei einem Verkehrsunfall im August 2001 mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug, für dessen Folgen die Beklagte dem Grunde nach zu 100 % haftete, schwer verletzt, insbesondere am linken Bein. Aufgrund einer Beinverkürzung links wurde ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Die Geschädigte verlor unfallbedingt ihren Arbeitsplatz als Bürokauffrau.
Rz. 177
Nach dem Unfall holten beide Parteien Gutachten zum Gesundheitszustand der Geschädigten ein. Ein von der Klägerin eingeholtes orthopädisches Gutachten stellte fest, dass die Erwerbsfähigkeit der Geschädigten bis zum 31.12.2005 aufgehoben sei. Der Gutachter erwartete allerdings, sollten keine Komplikationen auftreten, dass die Geschädigte Anfang 2006 wieder eine sitzende Tätigkeit vollschichtig werde aufnehmen können. Nach einem von der Beklagten eingeholten Gutachten wurden im Mai 2006 die unfallbedingten Beeinträchtigungen der Geschädigten in dem vormals ausgeübten Beruf als Bürokauffrau mit 10 % und für den allgemeinen Arbeitsmarkt mit 20 % bewertet. Im Dezember 2006 nahm das Arbeitsamt die Geschädigte aus der Vermittlung heraus, da sie – nach Begutachtung durch einen Arzt – nicht mehr für vermittlungsfähig erachtet wurde. Anschließend wurde Anfang des Jahres 2007 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt.
Rz. 178
Mit ihrer Klage verlangte die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der von ihr an die Geschädigte erbrachten Leistungen. Demgegenüber rügte die Beklagte die Verletzung der der Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht, weil diese sich nicht bemüht habe, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
Rz. 179
Das LG hat der Klage vollständig stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage bis auf einen geringen Betrag abgewiesen. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision erstrebte die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 180
Das Berufungsurteil hielt der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts konnte ein Erstattungsanspruch der Klägerin nach §§ 7, 18 StVG, § 823 BGB i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG a.F., §§ 116, 119 SGB X nicht verneint werden. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach Ersatzansprüche der Klägerin wegen auf sie übergegangener Ansprüche der Geschädigten auf Ersatz des Verdienstausfallschadens aufgrund des unfallbedingten Verlustes ihres Arbeitsplatzes für die Jahre 2006 bis 2018 nicht bestünden, weil die Geschädigte und die Klägerin in diesen Jahren gegen ihre Schadensminderungspflichten verstoßen hätten, war rechtsfehlerhaft.
Rz. 181
Soweit das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin wegen eines Verstoßes der Geschädigten gegen ihre Schadensminderungspflicht in Form unzureichender Anstrengungen zur Aufnahme einer erneuten Erwerbstätigkeit verneint hatte, war allerdings im Ausgangspunkt zutreffend, dass eine Kürzung des aus übergegangenem Recht des Geschädigten hergeleiteten Erstattungsanspruchs des Sozialversicherungsträgers bei einem Verstoß des Geschädigten gegen seine Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 S. 1 BGB) in Betracht kommt, weil sich der Sozialversicherungsträger ein solches Mitverschulden seines Versicherten anrechnen lassen muss. Die Vorschrift des § 254 Abs. 2 S. 1 letzter Hs. BGB setzt voraus, dass es der Geschädigte schuldhaft unterlassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Dieses Verschulden bedeutet nicht die vorwerfbare Verletzung einer gegenüber einem anderen bestehenden Leistungspflicht, sondern ein Verschulden gegen sich selbst, also die Verletzung einer im eigenen Interesse bestehenden Obliegenheit. Von der Verletzung einer Obliegenheit kann nur ausgegangen werden, wenn d...