A. Überblick
Rz. 1
Die Neufassung des noch aus dem Kaiserreich (1908) stammenden Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) ist von einer Expertenkommission vorbereitet worden, die den Entwurf eines fertig ausformulierten Versicherungsvertragsgesetzes vorgelegt hat. Obgleich in dieser aus 21 Mitgliedern bestehenden Kommission die Vertreter der Versicherungswirtschaft zahlenmäßig dominierten, war dieser Entwurf ausgewogen und ist im Gesetzgebungsverfahren nicht wesentlich verändert worden. Kernpunkt des neuen VVG ist der Wegfall des Alles-oder-Nichts-Prinzips bei grober Fahrlässigkeit, Obliegenheitsverletzung und Gefahrerhöhung. Nunmehr erhält der Versicherungsnehmer auch dann anteiligen Versicherungsschutz, wenn er sich grob fahrlässig verhalten hat.
Rz. 2
Das neue VVG 2008 ist am 1.1.2008 in Kraft getreten und gilt ab 1.1.2009 für alle Versicherungsverträge, also auch für Altverträge. Versicherungsfälle, die vor dem 1.1.2009 eingetreten sind, werden noch nach altem Recht behandelt, es sei denn, der Versicherungsvertrag ist nach dem 1.1.2008 abgeschlossen oder bereits vor dem 1.1.2009 auf das neue VVG umgestellt worden.
Rz. 3
Obgleich die Rechte der Versicherungsnehmer durch das neue VVG erheblich verbessert worden sind, wird das Vertragsverhältnis auch weiterhin wesentlich durch die dem Versicherungsvertrag zugrunde gelegten Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) bestimmt, im Bereich der Kraftfahrtversicherung durch die Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung (AKB).
Rz. 4
Ist bei "Altverträgen" ein Versicherungsfall bis zum 31.12.2008 eingetreten, ist insoweit das VVG 1908 anzuwenden (Art. 1 Abs. 2 EGVVG).
B. Grobe Fahrlässigkeit
Rz. 5
Während nach § 61 VVG a.F. Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit gleichermaßen zur völligen Leistungsfreiheit des Versicherers führten, ist der Versicherer nach § 81 Abs. 2 VVG bei grober Fahrlässigkeit berechtigt, "seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen". Da es sich bei der groben Fahrlässigkeit um einen subjektiven Risikoausschluss handelt, trägt der Versicherer die Beweislast für die Schwere der Schuld und für den Umfang der Leistungskürzung. Es ist davon auszugehen, dass die Versicherer im Regelfall die Hälfte der Entschädigungsleistung erbringen, es sind aber auch Kürzungen bis auf Null ebenso denkbar wie eine vollständige Schadenregulierung, wenn die grobe Fahrlässigkeit sich im Randbereich der einfachen Fahrlässigkeit bewegt.
Einige Versicherer verzichten auf den Einwand der groben Fahrlässigkeit, außer bei Trunkenheit und Schlüsselverlust.
Rz. 6
§ 81 Abs. 2 VVG entspricht der Regelung in der Schweiz (Art. 14 Abs. 2 Schweizerisches VVG); dort bewegen sich die Kürzungen bei grober Fahrlässigkeit in einem Bereich von 30 %, lediglich bei alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit werden höhere Kürzungen vorgenommen.
Rz. 7
Es ist davon auszugehen, dass in der Rechtsprechung auf Dauer durch Kasuistik eine Tabelle entwickelt wird, wie es sie bereits zu Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen und Schmerzensgeld gibt.
Rz. 8
Rechtsprechung:
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Ein Abzug von 75 % ist zulässig, wenn der Versicherungsnehmer einem erkennbar alkoholbedingt fahruntüchtigen Fahrer das versicherte Fahrzeug überlässt. |
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Bei einem Rotlichtverstoß ist eine Kürzung auf 50 % der Versicherungsleistung angemessen. |
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Beim Abkommen von der Fahrbahn wegen Anzündens einer Zigarette ist eine Leistungskürzung von 75 % angemessen. |
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Bei absoluter Fahruntüchtigkeit tritt vollständige Leistungsfreiheit des Versicherers ein. |
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Auch bei alkoholbedingter absoluter Fahruntüchtigkeit ist nicht generell eine Kürzung auf Null angemessen, es kommt auch hier auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an. |
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Wenn die begrenzte Höhe der Einfahrt eines Parkhauses missachtet und ein Fahrzeugschaden verursacht wird, ist eine hälftige Kürzung der Entschädigung angemessen. |
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Wird mit einem gemieteten Lkw gegen eine Straßenbrücke gestoßen, obgleich auf die geringe Durchfahrtshöhe durch entsprechende Verkehrsschilder hingewiesen wird und die Kante der Unterführung deutlich rot-weiß markiert ist, liegt grobe Fahrlässigkeit vor, die eine Kürzung von einem Drittel berechtigt. |
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Ein Fahrzeugführer, der bei winterlichen Straßenverhältnissen mit Sommerreifen von der Fahrbahn abkommt, muss eine Kürzung der Versicherungsleistungen um 50 % hinnehmen. |
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Bei relativer Fahruntüchtigkeit (ab 0,3 Promille) ist in der Regel mit einer Kürzungsquote von 50 % zu beginnen, die sich dann nach dem Grad der Alkoholisierung bis auf 100 % bei absoluter Fahruntüchtigkeit steigert. |
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Bei einer Blutalkoholkonzentration von 0,55 Promille ist eine Leistungskürzung um 25 % angemessen. |
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Bei einer Blutalkoholkonzentration von 0,54 Promille ist eine Leistungskürzung um 75 % angemessen. |
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Wenn ein Kraftfahrer nachts einem Fuchs ausweicht und hierdurch einen Fahrzeugschaden verursacht, ist der Aufwendungsersatzanspruch im konkreten Fall um 60 % zu kürzen. |
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Bei einer Blutalkoholkonzentration von 0,95 Pr... |