Marnie Plehn, Peter Hützen
Rz. 112
Die Vorschriften über den besonderen Kündigungsschutz bei Massenentlassungen (§§ 17 ff. KSchG) gelten sowohl im Insolvenzeröffnungsverfahren als auch nach Verfahrenseröffnung und sind somit sowohl vom vorläufigen als auch vom endgültigen Insolvenzverwalter uneingeschränkt zu beachten (vgl. EuGH, 17.12.1998 – C 250/97, NZA 1999, 305 = ZInsO 1999, 1183). Werden die Zahlenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG überschritten, muss der (vorläufige) Insolvenzverwalter das in § 17 KSchG beschriebene Procedere einhalten und vor Ausspruch der Kündigungen die (geplante) Massenentlassung schriftlich (§ 17 Abs. 3 S. 2 KSchG) bei der zuständigen Agentur für Arbeit anzeigen. Für die Anzeigepflicht ist unerheblich, ob die Entlassungen während der Gründungsphase, während des normalen Geschäftsbetriebes, im Liquidationsstadium, im Eröffnungsverfahren oder in einem eröffneten Insolvenzverfahren durchgeführt werden. Auf die peinliche Einhaltung der Regelungen des § 17 KSchG ist zu achten, da Fehler im Anzeigeverfahren ebenso wie die Nichteinhaltung des § 17 KSchG zur Nichtigkeit der Kündigungen der Arbeitnehmer führen, die von der Massenentlassung betroffenen sind (BAG v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, NZA 2013, 966). Dies gilt sowohl für die Durchführung des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG als auch für das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 1 u. Abs. 3 KSchG (BAG v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, NZA 2013, 966). Bereits die fehlende oder fehlerhafte die Unterrichtung des Betriebsrats über Angaben zu den Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer kann zu einer nicht ordnungsgemäß erstatteten Anzeige und damit zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen (BAG v. 9.6.2016 – 6 AZR 405/15, NZA 2016, 1198).
Rz. 113
Der Arbeitgeber bzw. der (vorläufige) Insolvenzverwalter ist gem. § 17 Abs. 1 KSchG verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, wenn er
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in Betrieben mit i.d.R. mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer, |
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in Betrieben mit i.d.R. mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 % der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer, |
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in Betrieben mit i.d.R. mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer |
innerhalb von 30 Tagen entlässt.
1. Begriff der Entlassung
Rz. 114
Die Regelungen des dritten Abschnitts des KSchG dienen – ursprünglich – einem arbeitsmarktpolitischen Zweck. Zielsetzung der §§ 17 ff. KSchG ist es, die Arbeitsverwaltung rechtzeitig über anstehende Massenentlassungen zu informieren, damit sie sich rechtzeitig auf eine erhöhte (personelle und finanzielle) Beanspruchung ihrer Ressourcen durch die zu erwartenden Entlassungen einstellen und diese ggf. noch verhindern oder abmildern, zumindest aber steuern kann (vgl. BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 935/07, NZA 2009, 1013; BAG v. 23.3.2006, NZA 2006, 971; BAG v. 24.2.2005, NZA 2005, 766; APS/Moll, vor §§ 17 ff. KSchG Rn 8; KR/Weigand, § 17 KSchG Rn 7; ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn 2). Die Agentur für Arbeit soll die Möglichkeit haben, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigungen der Entlassenen zu sorgen (BAG v. 18.1.2012, ZInsO 2012, 803 = BB 2012, 315). Neben dem arbeitsmarktpolitischen Zweck dienen die §§ 17 ff. KSchG insbesondere bei unionsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften auch und gerade einem effektiven, individuellen Schutz der betroffenen Arbeitnehmer bei Massenentlassungen (EuGH v. 15.2.2007 – C 270/05, ZIP 2007, 496; EuGH v. 10.9.2009, ZInsO 2009, 1224). Ausgehend von der ursprünglichen (Haupt-) Zielrichtung der §§ 17 ff. KSchG, Belastungen für den Arbeitsmarkt durch Massenentlassungen frühzeitig zu erkennen und abfedern zu können, wurde unter dem in §§ 17, 18 KSchG verwendeten Begriff der Entlassung der Zeitpunkt der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses bzw. des tatsächlichen Ausscheidens der Arbeitnehmer aus dem Betrieb verstanden (BAG v. 11.3.1999, ZIP 2009, 1568 = ZInsO 1999, 420; Arens/Brand, § 1 Rn 768).
Rz. 115
Mit der ("Junk"-) Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 (C 188/03, NJW 2005, 1099 = NZA 2005, 213 = ZInsO 2005, 591 m. Anm. Siafarikas = ZIP 2005, 230) hat sich das Verständnis des Begriffs Entlassung grundlegend gewandelt: Der Begriff Entlassung ist unionsrechtskonform, nach den Vorschriften der Art. 2 bis Art. 4 RL 98/59/EG, der sog. MassenentlassungsRL v. 20.7.1998, dahin gehend auszulegen, dass (bereits) die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als "Entlassung" gilt. Im Anschluss an die EuGH-Entscheidung hat das BAG (v. 23.3.2006, NZA 2006, 971 = ZIP 2006, 1644; BAG v. 13.7.2006, NZA 2007, 25 = ZInsO 2007, 1060 = ZIP 2006, 2396; BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 317/05, NZA 2007, 1287; BAG v. 22.3.2007, NZA 2007, 1101) unter Aufgabe seiner früheren Rspr. dementsprechend entschieden, dass unter "Entlassen" i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist.
2. Massenentlassung
Rz...