1. Typische Sachverhalte
Rz. 58
Der türkische Mandant lebt und arbeitet seit mehr als einem Jahr in Deutschland, hat eine Aufenthaltserlaubnis wegen einer Eheschließung, möchte sich nun trennen, und fragt nach seinen aufenthaltsrechtlichen Perspektiven.
2. Rechtliche Grundlagen
Rz. 59
Privilegierenden Sonderregelungen gegenüber den allgemeinen Regeln des Aufenthaltsgesetzes unterliegen nicht nur Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nach dem Freizügigkeitsrecht und dem Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern teilweise auch türkische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen. Die historische Grundlage bietet hierfür zunächst das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 23.12.1963. Das Abkommen bezweckt die "Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen" zwischen den beiden Vertragsparteien. Maßgeblich für die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen sind die Art. 12 bis 14 des Abkommens, wonach die "Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen" sei, und die "Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Dienstleistungsverkehrs aufzuheben" seien. In einem Zusatzprotokoll zu dem Abkommen von 1972 wurden diese Ziele untermauert, jedoch zunächst ohne konkrete und individualschützende Regelungen. Konkrete Regelungen, auf die sich türkische Arbeitnehmer berufen können und die auch für die heutige Praxis weiterhin große Relevanz haben, finden sich derweil insbesondere in dem Beschluss Nr. 1/80 des nach dem Abkommen zuständigen Assoziationsrates (ARB 1/80).
Rz. 60
In Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 heißt es, dass
der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber [hat], wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt“;
"nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht [hat], sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben"
; sowie
"nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis [hat]"
.
Wenngleich diese Vorschrift zunächst unmittelbar nur die Arbeitserlaubnis adressiert, hat der EuGH die Schlussfolgerung gezogen, dass sich daraus implizit auch ein Aufenthaltsrecht zu den genannten Zwecken ergibt, da die Rechte ansonsten wirkungslos wären. Anknüpfend an § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG überlagert die Bestimmung das allgemeine Aufenthaltsrecht. In § 4 Abs. 2 AufenthG ist – wenngleich die Verlängerung des Aufenthaltsrechts an sich nur deklaratorische Wirkung hat – sogleich vorgesehen, dass die betreffenden Personen verpflichtet sind, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass Art. 6 ARB 1/80 kein Recht auf Einreise statuiert, sondern nur das Recht einer Verlängerung für den Fall eines vorab erlaubten Aufenthalts und einer erlaubten Zulassung zum Arbeitsmarkt.
Rz. 61
Arbeitnehmer in diesem Sinne sind, wie nach dem Regelungsregime des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts, Personen, die einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit in Form einer entgeltlichen Arbeitsleistung nachgehen, wobei auch hier geringfügige Beschäftigungen umfasst sind.
Rz. 62
Da ein vorab erlaubter Aufenthalt Voraussetzung für die Privilegierungen von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ist, können sich Personen mit einer Aufenthaltsgestattung – während eines laufenden Asylverfahrens – und Personen mit einer Duldung nicht darauf berufen. Derweil regelt Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80, dass in bestimmten Fällen (Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurze Krankheit) Ausfallzeiten – in denen also die betreffende Person nicht gearbeitet hat – einer ordnungsgemäßen Beschäftigung gleichstehen bzw. in anderen Fällen (unverschuldete Arbeitslosigkeit, längerfristige Erkrankung) die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche nicht berühren.
Rz. 63
Stellt eine Person einen Verlängerungsantrag auf Grundlage von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, gilt während des Verfahrens der bisherige Aufenthaltstitel gem. § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend. Zugleich muss ein Rechtsmittel gegen die Ablehnung der Verlängerung – anknüpfend an die Rechtsprechung des EuGH – aufschiebende Wirkung haben; dies ist jedoch in der deutschen Rechtsprechung nicht unumstritten.
Familienangehörige von assoziationsrechtlichen Freizügigkeitsberechtigten nach Art. 6 ARB 1/80 können sich schließlich auf Art. 7 ARB 1/80 berufen. Auch diese Norm enthält unmittelbar nur beschäftigungsbezogene Regelungen, sie impliziert aber ebenso ein Aufenthaltsrecht für die Familienangehörigen.