Rz. 35

Die Bewertungen der Anlage 4 gelten für den Regelfall (Vorbemerkung Nr. 3 S. 1 zur Anlage 4 zur FeV). Diese unscheinbare und leicht zu überlesende Formulierung bedeutet, dass derjenige, der die in der Anlage 4 zur FeV genannten Umstände verwirklicht, grundsätzlich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt. Der Betroffene muss einen Sonderfall geltend machen und belegen.[55] Im FE-Entziehungsverfahren obliegt es dabei grundsätzlich dem FE-Inhaber, das Bestehen solcher atypischen Umstände in seiner Person substantiiert darzulegen.[56] Nach der Vorbemerkung 3 in Anlage 4 FeV sind Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein.[57]

 

Rz. 36

Erkenntnisse oder Umstände, die die Regelannahme der Anlage 4 FeV entkräften, müssen im FE-Entziehungsverfahren vom FE-Inhaber substantiiert dargelegt werden.[58] Solche Umstände lassen sich nach VGH BW nicht daraus ableiten, dass sich der Betroffene zur Zeit seines Drogenkonsums aufgrund mehrerer Schicksalsschläge nach eigener Einschätzung an einem persönlichen Tiefpunkt befunden hat.[59] Es ist nicht zu beanstanden, wenn bei der Prüfung, ob Anlass besteht, von der Grundregel abzuweichen, auch die Kontakte zu Personen aus dem Drogenmilieu berücksichtigt werden.[60] Zur Widerlegung der Regelfallannahme muss etwa vorgetragen werden, dass die Drogeneinnahme eine solche Ausnahmesituation war, dass sie sich nicht wiederholen wird.[61] Unter besonderen Umständen kann eine besondere Verhaltenssteuerung vorliegen, sodass im Einzelfall höchst ausnahmsweise keine Gefährdung der Verkehrssicherheit zu besorgen ist.[62]

 

Rz. 37

Die Regelfallvermutung gilt aber in zeitlicher Dimension nicht unbegrenzt. Je länger eine festgestellte Drogenauffälligkeit zurückliegt, desto weniger kann der Regelfall angenommen werden. Wie lange die Regelfallungeeignetheit eines in der Vergangenheit liegenden Drogenkonsums wirkt, hängt von dem Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Art und Menge der Drogen und der Dauer des Konsums ab.[63] Je länger der Konsum angedauert hat und je intensiver er war und möglicherweise verschiedene Drogen umfasst hat, desto länger wirken diese Umstände hinsichtlich der Fahrungeeignetheit fort.[64]

 

Rz. 38

Einen Regelfall i.S.d. Nr. 9.1 der Anlage 4 FeV hat das VG Lüneburg[65] in folgendem Fall nicht mehr angenommen: Hat es die zuständige Fahrerlaubnisbehörde im Anschluss an eine Fahrt unter Ecstasy- und Cannabiseinwirkung versäumt (damals) rechtmäßigerweise die FE wegen bestehender Ungeeignetheit zu entziehen, so kann nach Ablauf eines Zeitraums von fast vier Jahren nur noch von einem Eignungszweifel ausgegangen werden, wenn keine Anhaltspunkte für einen weiteren Drogenkonsum vorliegen. Aufgrund des Zeitablaufs seit dem Vorkommnis ist hier kein Regelfall i.S.d. Nr. 9.1 der Anlage 4 FeV mehr anzunehmen. In einem solchen Fall ist – zur Klärung der jetzt nur noch bestehenden Eignungszweifel – die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtmäßig (§ 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV).

 

Rz. 39

Nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs darf der Regelfall der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur innerhalb eines Jahres nach Feststellung der die Ungeeignetheit begründenden Umstände aufgrund von § 11 Abs. 7 FeV angenommen werden, auch wenn zwischenzeitliche Abstinenz vorgetragen wird. Denn für die Wiedererlangung der Fahreignung ist der Nachweis einer Verhaltensänderung hin zu einem fahrerlaubniskonformen Verhalten über ein Jahr entsprechend Nr. 9.5 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung erforderlich. Daher gilt jedenfalls innerhalb eines Jahres nach Verwirklichung der die Ungeeignetheit begründenden Umstände (Drogenkonsum bzw. Drogenfahrt) der Betreffende als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Die Behörde muss der behaupteten Abstinenz aber im Rahmen der Frage der Wiedererteilung der FE nachgehen und Aufklärungsmaßnahmen anordnen, wenn der Betreffende die Umstände nicht selbst nachweist.[66] Diese mittlerweile ständige Rechtsprechung des BayVGH mutet zunächst sehr schematisch an, da sie eine genaue zeitliche Grenze von einem Jahr setzt, ohne nach der Intensität des Drogenkonsums zu differenzieren. Andererseits ist aber die Statuierung einer festen Jahresfrist für die Regelannahme der Ungeeignetheit sowohl für die Führerscheinbehörden wie auch für die Betroffenen eine klare, berechenbare Regelung. Denn es geht um die Frage, wie lange die Behörde davon ausgehen darf, dass ein Drogenkonsument als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt und die FE ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen zu entziehen hat. Dem Einzelnen bleibt es unbenommen, evtl. schon vor Ablauf eines Jahres eine stabile Verhaltensumkehr und damit die Wiedererlangung der Fahreignung zu belegen, was gerade bei einem Konsum nur geringe...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?