Rz. 2

Das Europarecht gewinnt für die deutsche Unternehmensbesteuerung in zunehmendem Maße an Bedeutung. Neben dem sekundären Unionsrecht, zu dem insbesondere die von der EU erlassenen Richtlinien zählen, gerät im Bereich des primären Unionsrechts die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung und Anwendung des Steuerrechts unter Beachtung der EU-Grundfreiheiten mehr und mehr in den Blickpunkt.

 

Rz. 3

Die Europäischen Verträge in der gegenwärtigen Fassung des Vertrags von Lissabon gewähren den Mitgliedstaaten zwar die Souveränität zu entscheiden, ob und welche direkten Steuern sie erheben, wie sie die Bemessungsgrundlage und den Steuersatz festlegen und das Besteuerungsverfahren ordnen. Gleichzeitig verlangen jedoch Art. 3 bis 6 AEUV und Art. 26 AEUV von den Mitgliedstaaten, dass diese ihren Beitrag leisten zur Errichtung eines Binnenmarktes, der "einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist", umfasst. Beides wird durch das Steuerrecht der einzelnen Mitgliedstaaten oft nicht gewährleistet, so dass der EuGH immer häufiger eine Kollision zwischen nationalen Steuerregelungen und dem Unionsrecht feststellt. Nach Ansicht des EuGH hat bei solchen Gegensätzen das Unionsrecht nahezu uneingeschränkten Vorrang vor dem nationalen Steuerrecht.[2] Verstößt eine steuerrechtliche Vorschrift gegen EU-Recht, muss zuerst geprüft werden, ob diese Norm unionsrechtskonform ausgelegt werden kann.[3] Gelingt dies nicht, führt dies nicht zur Nichtigkeit der Norm. Vielmehr ist diese insoweit nicht mehr anzuwenden (sog. Anwendungsvorrang), als sie zu einem europarechtswidrigen Zustand führen würde.[4] Die übrigen nicht-europarechtswidrigen Bestandteile einer Norm können weiterhin Anwendung finden.[5]

 

Rz. 4

Über Art. 20 Abs. 3 GG sind europarechtswidrige Steuerrechtsnormen grundsätzlich bereits seitens der Finanzverwaltung von einer Anwendung auszuschließen und durch europarechtskonforme Rechtsfolgen zu ersetzen. Allerdings ist dies aufgrund des Umfangs möglicher EU-widriger Normen[6] eher nicht zu erwarten, so dass Steuerpflichtige selbst darauf achten müssen, potenziell europarechtswidrige Steuerbescheide anzufechten bzw. offen zu halten.[7]

[2] EuGH, Urt. v. 28.1.1986, Rs. 270/83 (Avoir fiscal), Slg. 1986, 273 ff., Rn 24.
[3] EuGH, Urt. v. 16.7.1998, Rs. C-264/96 (ICI), Slg. 1998, I-4695, Rn 31.
[4] EuGH, Urt. v. 9.3.1978, Rs. 106/77 (Simmenthal SpA), Slg. 1978, 629, Rn 17 u. 18.
[5] Vgl. zu dem europarechtlich geformten Grundsatz der geltungserhaltenden Reduktion Gosch, Ubg 2009, 77 sowie FG Niedersachsen, Urt. v. 11.2.2010, 6 K 406/08, IStR 2010, 261.
[6] Checkliste potenziell EG-rechtswidriger Normen des deutschen direkten Steuerrechts, Update 2021: Kessler/Spengel, DB Beilage Nr. 1/2021.
[7] Ribbrock, RIW 2005, 130.

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