Rz. 100
Der Annahmeverzug des Käufers beim Handelskauf hat in den Vorschriften der §§ 373, 374 HGB insoweit eine eigenständige Regelung erfahren, als dadurch eine Erweiterung der Rechte des Verkäufers bei Annahmeverzug des Käufers nach BGB bewirkt wird. § 373 HGB beinhaltet also letztendlich eine Kumulation der Rechte aus BGB und HGB. Dem Verkäufer werden zusätzlich das Recht zur Hinterlegung (§ 373 Abs. 1 HGB) und das Recht zum Selbsthilfeverkauf (§ 373 Abs. 2–5 HGB) eingeräumt. § 374 HGB bestimmt, dass die Rechte des Verkäufers wegen Annahmeverzugs nach dem BGB unberührt bleiben, sodass der Verkäufer sowohl die Rechte aus dem BGB als auch die aus dem HGB geltend machen kann. Erst recht bleiben die Rechte des Verkäufers bei Schuldnerverzug des Käufers mit seiner Abnahmepflicht (§ 433 Abs. 2 BGB) nach den §§ 286 ff. BGB unberührt.
Rz. 101
Das Recht des Verkäufers zum Selbsthilfeverkauf ist unter folgenden Voraussetzungen möglich:
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Es muss ein Handelskauf vorliegen, wobei schon ein einseitiger Handelskauf ausreicht. |
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Der Käufer muss sich in Annahmeverzug befinden. Dessen Voraussetzungen richten sich allein nach den §§ 293 ff. BGB. Das HGB enthält insoweit keine Besonderheiten. |
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Der Selbsthilfeverkauf muss rechtzeitig angedroht werden (§ 373 Abs. 2 HGB). Die Androhung braucht dabei nicht die Art des Selbsthilfeverkaufs (öffentliche Versteigerung oder freihändiger Verkauf) zu benennen. Eine unbestimmt gehaltene Androhung ist aber als Androhung des gesetzlichen Regelfalls, also der öffentlichen Versteigerung, auszulegen. Sofern der Verkäufer eine bestimmte Art des Selbsthilfeverkaufs angedroht hat, ist er daran bis auf Widerruf gebunden. Hat er also z.B. öffentlichen Verkauf angedroht, so darf er nicht ohne neue Androhung freihändig verkaufen. Die Androhung ist formfrei, kann also auch mündlich oder fernmündlich erfolgen. Entfallen kann die Androhung, wenn sie untunlich ist, insb. bei leicht verderblichen Waren (§ 373 Abs. 2 Satz 2 HGB). |
Rz. 102
Bei der Durchführung des Selbsthilfeverkaufs hat der Verkäufer Folgendes zu beachten:
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Der Verkäufer hat ein Wahlrecht zwischen Hinterlegung (§ 373 Abs. 1 HGB) und dem Selbsthilfeverkauf. Er kann somit auch zunächst hinterlegte Waren später versteigern lassen. Demgegenüber erfasst der Selbsthilfeverkauf nach § 383 BGB nur nichthinterlegungsfähige Sachen (§ 372 BGB), d.h. nach BGB schließen sich Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf gegenseitig aus. |
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Nach dem Gesetz bestehen zwei Möglichkeiten des Selbsthilfeverkaufs:
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öffentliche Versteigerung durch einen Gerichtsvollzieher oder durch eine andere zur Versteigerung befugte Person (in Ausnahmefällen auch Notare, vgl. § 20 Abs. 3 Satz 2 BNotO), § 373 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 HGB, § 383 Abs. 3 BGB oder |
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freihändiger Verkauf durch einen dazu öffentlich ermächtigten Handelsmakler oder durch eine zur Versteigerung befugte Person, sofern die Ware einen Börsen- oder Marktpreis hat (§ 373 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 HGB). Einen Börsen- oder Marktpreis hat die Ware, wenn sich aus einer größeren Zahl von Verkäufen der betreffenden Ware zur fraglichen Zeit am Verkaufsort (Börse, Markt) ein Durchschnittspreis ermitteln lässt. |
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Sofern der Verkäufer die öffentliche Versteigerung wählt, hat er den Käufer vorher über Zeit und Ort der Versteigerung zu informieren, es sei denn, dies ist untunlich, etwa weil der Käufer nicht erreichbar ist (§§ 373 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1, Abs. 5 Satz 3 HGB). Diese Benachrichtigung stellt allerdings keine Gültigkeitsvoraussetzung für den Selbsthilfeverkauf dar, sondern begründet im Fall ihrer Unterlassung lediglich eine Schadensersatzpflicht des Verkäufers (§ 373 Abs. 5 Satz 2 HGB). Das Gleiche gilt, wenn der Verkäufer den Käufer nicht unverzüglich vom vollzogenen Verkauf benachrichtigt und dem Käufer dadurch ein Schaden entsteht (§ 373 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 HGB). |
Rz. 103
Da ein nach § 373 HGB ordnungsgemäß durchgeführter Selbsthilfeverkauf in Erfüllung des zwischen dem Verkäufer und dem Käufer bestehenden Kaufvertrages erfolgt, wird der Verkäufer durch den Selbsthilfeverkauf von seiner Lieferschuld ggü. dem Käufer frei. Wenn allerdings der Selbsthilfeverkauf nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, weil etwa die Versteigerungsandrohung unberechtigterweise unterblieben ist, braucht ihn der Käufer nicht gegen sich gelten zu lassen, da der Verkauf nicht für "seine Rechnung" i.S.d. § 373 Abs. 3 HGB erfolgt ist. Der Verkäufer ist dann nicht von seiner Leistungspflicht frei geworden. Im Einzelfall kann aufgrund der Versteigerung aber Unmöglichkeit eingetreten sein, etwa wenn ein Rückerwerb vom Ersteigerer nicht möglich ist.
Rz. 104
Der Selbsthilfeverkauf ist streng vom sog. Deckungsverkauf zu unterscheiden, den der Verkäufer bei Zahlungsverzug des Käufers auf eigene Rechnung vornimmt, um so die Höhe seines Schadensersatzanspruches statt der Leistung aus den §§ 280 Abs. 1 und 3, 281 BGB konkret beziffern zu können. Selbsthilfeverkauf und Deckungsverkauf unterscheiden ...