Rz. 6

Nachdem die Anstoßkonfiguration anhand der Schäden ermittelt worden ist, geht es im nächsten Schritt darum, die Relativgeschwindigkeit zwischen den Fahrzeugen einzugrenzen. Die Relativgeschwindigkeit ist der Geschwindigkeitsunterschied zwischen dem stoßenden und dem gestoßenen Pkw. Nur in dem besonderen Fall, dass der angestoßene Pkw zum Unfallzeitpunkt stand, entspricht die Relativgeschwindigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit des Auffahrenden. Gelegentlich wird vorgetragen, dass der Auffahrende mit hoher Geschwindigkeit (beispielsweise 50 km/h) kollidiert sei, um eine hohe Belastung anzudeuten. War der Fahrer im angestoßenen Pkw jedoch selbst noch mit beispielsweise 40 km/h unterwegs, so beträgt die Relativgeschwindigkeit lediglich 10 km/h (Geschwindigkeitsunterschied) und die Schäden sind genauso stark ausgeprägt wie bei einem Aufprall mit 10 km/h gegen einen stehenden Pkw.

 

Rz. 7

Generell gilt, je stärker die Schäden an den Fahrzeugen ausfallen, desto größer war die Relativgeschwindigkeit. Weiter gilt, dass die Belastung der Insassen nur von der Relativgeschwindigkeit abhängt und nicht von der Kollisionsgeschwindigkeit des Auffahrenden.

 

Rz. 8

Die Höhe der Relativgeschwindigkeit lässt sich eingrenzen, wenn die Schadenbilder im Fall mit denen eines Crashversuchs verglichen werden. Wenn man auf einen Pkw-Pkw-Crashversuch zurückgreifen kann, der sich von den verwendeten Fahrzeugen, der Anstoßgeometrie und der Schadenausprägung übertragen lässt, so wird auch die Relativgeschwindigkeit nicht wesentlich abweichen.

Anderenfalls ist es erforderlich, auf Barrierenanprallversuche zurückzugreifen. Als Kenn­­wert für die aufgenommene Deformationsenergie des Pkw hat sich der EES-Wert etabliert. EES bedeutet Energy Equivalent Speed und entspricht derjenigen Geschwindigkeit, mit der ein Pkw gegen eine undeformierbare und nicht verschiebbare Barriere prallen müsste, um genauso schwer beschädigt zu werden wie im Unfallgeschehen (siehe auch § 3 Rn 46). Alternativ kann aber auch direkt die Deformationsenergie ermittelt und in die Berechnung einbezogen werden. Um den EES-Wert des Nissan im Fall einzugrenzen, ist der Crash-Versuch der Abb. 7.5 beigezogen worden. Im Versuch prallte ein VW Polo mit rund 11 km/h gegen eine Barriere. Da der Frontschaden im Versuch ähnlich schwer wiegt wie im Fall, wird für die Berechnung ein EES-Wert von 10 bis 12 km/h angesetzt.

Abb. 7.5

Dem Heckschaden am VW im Fall wird ein EES-Wert von 3 bis 4 km/h zugeordnet. Hierzu wurde der Versuch auf Abb. 7.6 ausgewertet. Da es zum VW keine Fotos mit demontierter Stoßfängerverkleidung gab, könnte der Schaden auch schwerwiegender gewesen sein. Da aus dem Kostenvoranschlag nur bekannt war, dass der Querträger getauscht werden sollte, lassen sich ein höherer EES-Wert und damit eine größere Belastung der Insassen nicht beweisen.

Abb. 7.6

 

Rz. 9

Sind die EES-Werte und die Fahrzeugmassen für beide Fahrzeuge in Bandbreiten bekannt, so kann die Relativgeschwindigkeit ermittelt werden (siehe Abb. 7.7). Als weiterer Parameter ist in der Formel die Stoßziffer, auch k-Faktor genannt, enthalten. Die Stoßziffer beschreibt die Elastizität des Stoßes und liegt in einer Größenordnung von 0,1 bis 0,3. Mit zunehmender Überdeckung wird auch die Stoßziffer größer. Jüngste Versuche zeigten auch höhere Werte. Bei Fahrzeugen mit besonders stabilen Stahlquerträgern und bei geringen Relativgeschwindigkeiten konnten Stoßziffern von etwa 0,5 ermittelt werden. Für die Berechnung gilt: je größer die Stoßziffer, desto höher ist auch die Relativgeschwindigkeit und die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung.

Abb. 7.7

Entsprechend der Berechnung in Abb. 7.7 folgt eine Relativgeschwindigkeit von rechnerisch 14,0 bis 17,6 km/h, also rund 14 bis 18 km/h. Als Praxistipp ist anzumerken, dass die Relativgeschwindigkeit etwa der Summe der EES-Werte entspricht, wenn die Fahrzeugmassen gleich sind und der k-Faktor vernachlässigt wird.

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