Rz. 344
Der Geschädigte kann auch dann 130 % des Wiederbeschaffungswertes beanspruchen, wenn die geschätzten Reparaturkosten über diesem Betrag liegen, das Unfallfahrzeug aber auf einem alternativen und kostengünstigeren Weg – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – vollständig und fachgerecht und ohne verbleibende Defizite repariert wurde. In diesem Fall erhält der Geschädigte jedenfalls die tatsächlich entstandenen, unterhalb des Wiederbeschaffungswertes liegenden Reparaturkosten ersetzt (BGH v. 14.12.2010 – VI ZR 231/09 – VersR 2011, 282 = zfs 2011, 144 = r+s 2011, 222 m. Anm. Lemcke; BGH v. 15.11.2011 – VI ZR 30/11 – VersR 2012, 75). Offen gelassen hatte der BGH in einer früheren Entscheidung (BGH VersR 2007, 1244) die Frage, ob dies auch bei tatsächlichen Reparaturkosten oberhalb des Wiederbeschaffungswertes bis zur 130-%-Grenze gilt. Darauf lässt die jüngste Entscheidung des BGH schließen (BGH v. 8.2.2011 – VI ZR 79/10 – VersR 2011, 547 = r+s 2011, 224; zuvor bereits OLG München NZV 1990, 69 f.; OLG Dresden DAR 1996, 54; OLG Karlsruhe DAR 1999, 313; OLG Düsseldorf DAR 2001, 303; OLG Hamm DAR 2002, 215; OLG München NZV 2010, 400; LG Oldenburg DAR 2002, 223).
Rz. 345
Dies soll allerdings dann nicht gelten, wenn es dem Geschädigten nur aufgrund eines ihm auf die Reparatur gewährten Rabatts gelingt, die tatsächlichen Reparaturkosten entgegen der Schätzung des Sachverständigen auf einen Betrag unterhalb von 130 % des Wiederbeschaffungswertes zu senken (BGH v. 8.2.2011 – VI ZR 79/10 – VersR 2011, 547 = r+s 2011, 224). Aufgrund dieser Differenzierung kommt es zu nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Wertungswidersprüchen (Schneider, in: Berz/Burmann, Kap. 5 B Rn 10; Lemcke, Anm. zu BGH r+s 2011, 222). Entweder es wird ausnahmslos bei einer entsprechenden Schätzung des Sachverständigen eines Reparaturaufwandes oberhalb 130 % des Wiederbeschaffungswertes das Fahrzeug für (endgültig) reparaturunwürdig erklärt und ein schützenswertes Integritätsinteresse an einer (wirtschaftlich nicht vernünftigen) Weiternutzung abgelehnt mit der Folge, dass lediglich der Wiederbeschaffungsaufwand ersetzt wird. Oder es wird dem Geschädigten die Möglichkeit eingeräumt, trotz der Prognose des Sachverständigen sein Fahrzeug auf einem alternativen Weg vollständig und fachgerecht ohne verbleibende Defizite mit tatsächlichen Kosten bis zu 130 % des Wiederbeschaffungswertes zu reparieren. Dann kann es keinen Unterschied machen, ob ihm dies aufgrund der Verwendung von Gebrauchtteilen, der Beauftragung einer (hinsichtlich Material- und/oder Lohnkosten) besonders günstigen Werkstatt oder besonderen sonstigen Verhandlungsgeschicks – wie z.B. durch eine Rabattgewährung auf den Gesamtpreis – gelingt.
Rz. 346
Zwar hat der BGH eine Aufspaltung des objektiv erforderlichen Reparaturbetrages in einen wirtschaftlich vernünftigen – also bis zur 130-%-Grenze – und einen unwirtschaftlichen Teil, den der Geschädigte selbst zahlen muss, ausdrücklich verneint (BGH NJW 1992, 305). Der Geschädigte kann also dann, wenn die tatsächlichen Reparaturkosten die 130-%-Grenze übersteigen, nicht jedenfalls den 130-%-Anteil verlangen und den darüber hinaus gehenden Teil selbst tragen. Es gilt vielmehr das "Alles-oder-Nichts-Prinzip".
Rz. 347
Wenn der Geschädigte es aber aufgrund seines persönlichen Verhandlungsgeschicks erreicht, dass die 130-%-Grenze nicht überschritten wird, die Reparatur also mit bescheideneren Mitteln, aber technisch völlig einwandfrei und nach den Vorgaben des Sachverständigengutachtens ausgeführt wurde, dann muss ihm dieser Erfolg auch zugutekommen, ähnlich den überobligationsmäßigen Anstrengungen bei der Restwertrealisierung. Entscheidend ist nur, ob das Integritätsinteresse des Geschädigten schützenswert ist und mit der tatsächlich ausgeführten Reparatur geschützt werden kann.