Rz. 218
Zitat
BGB § 253 Abs. 2
1. Auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen kann der Gesichtspunkt der Genugtuung nicht grundsätzlich außer Betracht bleiben. Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien, stellt es unter dem Blickpunkt der Billigkeit einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes – möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes – Verschulden zur Last fällt oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft. Ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler kann dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben.
2. Grobe Fahrlässigkeit ist allerdings nicht bereits dann zu bejahen, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Ein grober Behandlungsfehler ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu.
a) Der Fall
Rz. 219
Die Klägerin nahm die Beklagte aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemanns (nachfolgend: Patient) auf Zahlung eines Schmerzensgeldes wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch.
Rz. 220
Der am 29.12.1936 geborene Patient wurde am 1.11.2008 nach Aspiration von Nahrung notfallmäßig in das von der Beklagten betriebene Krankenhaus eingeliefert. Der Patient wurde im Krankenhaus aufgenommen und es wurde ihm Blut abgenommen. Um 15.07 Uhr wurde eine Röntgenaufnahme des Thorax durchgeführt, die darauf hindeutete, dass etwas mit dem Herzen nicht in Ordnung war. Um 15.33 Uhr wurde ein EKG aufgezeichnet, das ST-Streckensenkungen zeigte, die einen Herzinfarkt sehr nahelegten. Das EKG wurde zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt ausgewertet; der auswertende Arzt dokumentierte ein "pathologisches" Ergebnis und vermerkte "Posteriorinfarkt möglich" sowie differentialdiagnostisch "Vorderwandischämie". Um 15.37 Uhr lagen die Laborwerte vor; diese zeigten einen deutlich erhöhten Troponin-Wert. Der Patient wurde auf die Normalstation verlegt, wo es gegen 16.30 Uhr zu einer kardialen Dekompression und zum Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand kam. Nach der Reanimation des Patienten wurde um 18.13 Uhr eine Herzkatheter-Untersuchung begonnen, im Rahmen derer der Patient mit zwei Stents versorgt wurde. Er verstarb am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr nach einem erneuten Herzstillstand.
Rz. 221
Mit der Klage hat die Klägerin die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in einer Größenordnung von 30.000 EUR aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemannes begehrt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG die Beklagte verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 EUR zu zahlen. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihren Antrag auf Zahlung eines darüber hinausgehenden angemessenen Schmerzensgeldes weiter.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 222
Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden war der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, wonach der Klägerin aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemanns ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus § 280 Abs. 1 S. 1, § 253 Abs. 2 BGB wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung gegen die Beklagte zustand, weil die dringend gebotene Herzkatheter-Untersuchung nicht spätestens gegen 16.00 Uhr, sondern erst um 18.13 Uhr begonnen wurde mit der Folge, dass es um 16.30 Uhr zum Kammerflimmern und am Folgetag zum Tod des Patienten kam.
Rz. 223
Die Revision rügte aber mit Erfolg, dass die Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes von Rechtsfehlern beeinflusst war. Sie beanstandete zu Recht, dass das Berufungsgericht dem Gesichtspunkt der Genugtuung hierbei keine Bedeutung beigemessen hatte und deshalb der Behauptung der Klägerin im nachgelassenen Schriftsatz nicht nachgegangen war, das Unterlassen unverzüglichen Katheterns nach Vorliegen der EKG- (15.33 Uhr) und Laborergebnisse (15.37 Uhr) sei ein grober Behandlungsfehler und eine "grob fahrlässige Nichtreaktion" der behandelnden Ärzte.
Rz. 224
Gemäß § 253 Abs. 2 BGB kann, wenn wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (Schmerzensgeld). Das Schmerzensgeld hat nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion).
Rz. 225
Dabei steht zwar regelmäßig der Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmung des Schmerzensgeldes bildet die Rücksicht auf Größe, H...