Rz. 222
Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden war der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, wonach der Klägerin aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemanns ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus § 280 Abs. 1 S. 1, § 253 Abs. 2 BGB wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung gegen die Beklagte zustand, weil die dringend gebotene Herzkatheter-Untersuchung nicht spätestens gegen 16.00 Uhr, sondern erst um 18.13 Uhr begonnen wurde mit der Folge, dass es um 16.30 Uhr zum Kammerflimmern und am Folgetag zum Tod des Patienten kam.
Rz. 223
Die Revision rügte aber mit Erfolg, dass die Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes von Rechtsfehlern beeinflusst war. Sie beanstandete zu Recht, dass das Berufungsgericht dem Gesichtspunkt der Genugtuung hierbei keine Bedeutung beigemessen hatte und deshalb der Behauptung der Klägerin im nachgelassenen Schriftsatz nicht nachgegangen war, das Unterlassen unverzüglichen Katheterns nach Vorliegen der EKG- (15.33 Uhr) und Laborergebnisse (15.37 Uhr) sei ein grober Behandlungsfehler und eine "grob fahrlässige Nichtreaktion" der behandelnden Ärzte.
Rz. 224
Gemäß § 253 Abs. 2 BGB kann, wenn wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (Schmerzensgeld). Das Schmerzensgeld hat nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion).
Rz. 225
Dabei steht zwar regelmäßig der Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmung des Schmerzensgeldes bildet die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen die wesentliche Grundlage bei der Bemessung der billigen Entschädigung. Da das Gesetz jedoch eine billige Entschädigung fordert, kann der Ausgleichszweck nicht allein maßgebend für das Ausmaß der Leistung sein. Das alleinige Abstellen auf den Ausgleichsgedanken ist unmöglich, weil sich immaterielle Schäden nicht und Ausgleichsmöglichkeiten nur beschränkt in Geld ausdrücken lassen. Die Genugtuungsfunktion bringt eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die es aus der Natur der Sache heraus gebietet, alle Umstände des Falles in den Blick zu nehmen und, sofern sie dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, bei der Bestimmung der Leistung zu berücksichtigen. Zu diesen Umständen gehört auch der Grad des Verschuldens des Schädigers.
Rz. 226
Mit diesen Grundsätzen war die Auffassung des Berufungsgerichts, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen komme dem Gesichtspunkt der Genugtuung grundsätzlich keine Bedeutung zu, nicht zu vereinbaren. Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien, stellt es unter dem Blickpunkt der Billigkeit einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes – möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes – Verschulden zur Last fällt oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft. So kann ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben.
Rz. 227
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass grobe Fahrlässigkeit nicht bereits dann zu bejahen ist, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Ein grober Behandlungsfehler ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu.
Rz. 228
Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes persönliches Verschulden. Vielmehr ist ein solcher Vorwurf nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet. Damit sind auch Umstände zu berücksichtigen, die die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen, und konkrete Feststellungen nicht nur zur objektiven Schwere der Pflichtwidrigkeit, sondern auch zur subjektiven Seite zu treffen.
Rz. 229
Demgegenüber kommt es für die Frage, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, der zu einer Umkehr der Be...