Rz. 67
BGH, Urt. v. 14.2.2006 – VI ZR 322/04, VersR 2006, 1090
Zitat
BGB § 253 Abs. 2; ZPO § 322 Abs. 1
Zum Umfang der Rechtskraft von Urteilen, die einer Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld stattgeben und eine Klage auf Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftiger immaterieller Schäden (sog. immaterieller Vorbehalt) abweisen.
I. Der Fall
Rz. 68
Die Klägerin stritt mit der beklagten Haftpflichtversicherung um weiteren immateriellen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 14.2.1982. In einem Vorprozess hatte ihr das Landgericht R. nach außergerichtlicher Zahlung von 40.000 DM weitere 30.000 DM Schmerzensgeld zuerkannt, aber ihren Antrag auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz sämtlicher weiterer immaterieller Schäden mit Urt. v. 28.1.1993 abgewiesen, weil mit einer Verschlimmerung der unfallbedingten Armschädigung nicht zu rechnen sei. Die Klägerin hatte dieses Urteil zwar zur Höhe des zuerkannten Schmerzensgeldbetrages erfolgreich angegriffen; die Abweisung des Feststellungsantrags war jedoch nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens.
Rz. 69
Im vorliegenden (Folge-) Rechtsstreit hat das Landgericht die Beklagte mit Versäumnisurteil zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldbetrags von 50.000 EUR verurteilt, auf den Einspruch der Beklagten dieses Versäumnisurteil aber aufgehoben und die Klage insoweit als unzulässig abgewiesen. Dem Anspruch der Klägerin auf Zahlung weiteren Schmerzensgeldes stehe die Rechtskraft der die Feststellungsklage abweisenden Entscheidung vom 28.1.1993 entgegen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht ihr unter Berücksichtigung ihrer Beeinträchtigungen bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung ein weiteres Schmerzensgeld von 20.000 EUR zugesprochen. Daneben hat es festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin weiteren immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit in deren Gesundheitszustand seit dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine wesentliche Verschlechterung eintrete und insoweit eine wesentliche Erhöhung des Schmerzensgeldes gerechtfertigt sei. Hiergegen richtete sich die vom Berufungsgericht beschränkt auf die Entscheidung über den Schmerzensgeldanspruch zugelassene Revision der Beklagten.
II. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 70
Das Berufungsurteil hielt den Angriffen der Revision stand.
Die Revision war nach Zulassung durch das Berufungsgericht wirksam auf den Anspruch der Klägerin auf Ersatz ihres immateriellen Schadens als rechtlich selbstständigen Teil des Gesamtstreitstoffes beschränkt, über den gesondert hätte entschieden werden können.
Rz. 71
Frei von Rechtsfehlern war die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld mit Urteil des Landgerichts R. vom 28.1.1993 und des Oberlandesgerichts S. vom 13.7.1993 die Klägerin nicht daran hinderte, für damals nicht vorhersehbare Spätfolgen des Unfalls ein weiteres Schmerzensgeld zu verlangen.
Rz. 72
Verlangt ein Kläger für erlittene Körperverletzungen uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, so werden durch den zuerkannten Betrag alle diejenigen Schadensfolgen abgegolten, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte (ständige Rechtsprechung, vgl. Senat, Urt. v. 11.6.1963 – VI ZR 135/62, VersR 1963, 1048, 1049; v. 8.7.1980 – VI ZR 72/79, VersR 1980, 975 f.; v. 24.5.1988 – VI ZR 326/87, VersR 1988, 929 f.; v. 7.2.1995 – VI ZR 201/94, VersR 1995, 471, 472; v. 20.3.2001 – VI ZR 325/99, VersR 2001, 876; v. 20.1.2004 – VI ZR 70/03, VersR 2004, 1334, 1335; BGH, Urt. v. 4.12.1975 – III ZR 41/74, VersR 1976, 440, 441). Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes gebietet es, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Anspruchs aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (Senatsurt. v. 6.12.1960 – VI ZR 73/60, VersR 1961, 164 f.; v. 20.3.2001 – VI ZR 325/99, a.a.O.; v. 20.1.2004 – VI ZR 70/03, a.a.O.). Solche Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten waren und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar war, mit denen also nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden musste und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt bleiben müssen, werden von der vom Gericht ausgesprochenen Rechtsfolge nicht umfasst und können deshalb Grundlage für einen Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld sein (vgl. Senat, Urt. v. 11.6.1963 – VI ZR 135/62; v. 8.7.1980 – VI ZR 72/79; v. 24.5.1988 – VI ZR 326/87; v. 20.3.2001 – VI ZR 325/99; vom 20.1.2004 – VI ZR 70/03; BGH, Urt. v. 4.12.1975 – III ZR 41/74, alle a.a.O.; BGH(GS)Z 18, 149, 167).
Rz. 73
Ob Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes erkennbar waren, beurteilt sich nicht nach der subjektiven Sicht der Parteien oder der Vollständigkeit der Erfassung des Streitstoffes durch das Gericht, sondern ...