Rz. 58
Menschen sind i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz i.S.d. § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Unterfällt das zu kündigende Arbeitsverhältnis nicht deutschem Vertragsstatut, ist der Sonderkündigungsschutz nicht einschlägig. Der Grad der Behinderung wird gem. § 152 SGB IX auf Antrag durch die Versorgungsämter festgestellt, wobei der Feststellung nur deklaratorische Bedeutung zukommt. Das SGB IX knüpft den Sonderkündigungsschutz im Grundsatz an den objektiven Bestand der Schwerbehinderteneigenschaft. Der Sonderkündigungsschutz steht dem schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen also bereits dann zu, wenn er im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits einen Bescheid über seine Schwerbehinderteneigenschaft erhalten oder wenigstens rechtzeitig einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt hat.
Rz. 59
Um einer missbräuchlichen Antragstellung des Arbeitnehmers im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Kündigung entgegenzuwirken, hat der Gesetzgeber in § 173 Abs. 3 SGB IX den besonderen Kündigungsschutz eingeschränkt. Nach dieser Norm findet der Schwerbehindertenschutz des § 168 SGB IX nur dann Anwendung, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft offenkundig oder nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt in den Fristen des § 152 Abs. 1 S. 3 SGB IX trotz ausreichender Mitwirkung des Antragstellers keine Feststellung getroffen hat. Die Frist des § 152 Abs. 1 S. 3 SGB IX beträgt gem. § 14 Abs. 2 S. 2 und 3 sowie § 17 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 SGB IX maximal drei Wochen nach Antragseingang, falls für die Feststellung kein Gutachten erforderlich ist, bzw. maximal sieben Wochen nach Antragseingang für den Fall der Notwendigkeit der Gutachtenerstellung.
Rz. 60
Praxishinweis
Will sich der schwerbehinderte Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess auf den besonderen Kündigungsschutz nach §§ 168 ff. SGB IX berufen, muss er darlegen und beweisen, dass er einen Antrag beim Versorgungsamt auf Anerkennung der Schwerbehinderung gestellt und diesen Antrag mit vollständigen Angaben sowie den erforderlichen Unterlagen versehen hat. Zudem muss der Antrag so rechtzeitig gestellt worden sein, dass noch vor Zugang der Kündigung eine positive Entscheidung über den Antrag möglich gewesen wäre. Bleibt er hierfür beweispflichtig, verhilft ihm selbst ein später festgestellter GdB von 50 nicht mehr zur Anwendbarkeit des besonderen Kündigungsschutzes.
Rz. 61
Zusammengefasst bedeutet dies für den besonderen Kündigungsschutz, dass er jedenfalls dann gegeben ist, wenn bei Kündigungszugang bereits ein bestandskräftiger Feststellungsbescheid vorlag. Ebenfalls ist der Arbeitnehmer sonderkündigungsgeschützt, wenn der Arbeitnehmer seinen Antrag spätestens drei Wochen vor Ausspruch der Kündigung eingereicht hat und dieser positiv beschieden wird. In diesem Fall genießt der Arbeitnehmer bereits mit Antragstellung den Sonderkündigungsschutz.
Nach Auffassung des BAG soll der Sonderkündigungsschutz zudem auch dann eingreifen, wenn im Zeitpunkt der Kündigung zunächst ein Bescheid vorliegt, wonach kein GdB von mindestens 50 vorliegt, aber dieser Bescheid nicht bestandskräftig ist und später aufgehoben wird. Diese Auffassung des BAG führt in der Praxis zu großen Problemen, da der Arbeitgeber entweder gezwungen ist, die Rechtskraft eines sozialgerichtlichen Verfahrens über die Schwerbehinderteneigenschaft abzuwarten oder den Arbeitnehmer befragen zu müssen, ob und in welchem Stadium ggf. ein Anerkennungsverfahren derzeit betrieben wird. Zudem führt die Auffassung des BAG zu der Konsequenz, dass derartige Verfahren nach dem ersten Bescheid weiterbetrieben werden, obwohl sie aussichtslos sind. Unabhängig davon ist der Arbeitnehmer sonderkündigungsgeschützt, wenn er einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt hat und das Versorgungsamt ohne Verschulden des Arbeitnehmers den Antrag bisher nicht bescheiden konnte.
Rz. 62
Damit ergibt sich durch die Regelung des § 173 Abs. 3 SGB IX – abgestellt auf den Zeitpunkt der Kündigung – folgende Übersicht:
Feststellungsbescheid mit GdB von 50 oder mehr liegt vor |
Sonderkündigungsschutz gem. § 173 Abs. 3 Alt. 1 SGB IX |
Schwerbehinderung offensichtlich |
Sonderkündigungsschutz gem. § 173 Abs. 3 Alt. 1 SGB IX |
Antrag gestellt, Bescheid liegt noch nicht vor, Frist des § 152 Abs. 1 S. 3 ist erreicht, keine fehlende Mitwirkung |
Sonderkündigungsschutz gem. § 173 Abs. 3 Alt. 2 SGB IX |
GdB von 30 oder 40 festgestellt, Änderungsantrag gestellt, Bescheid liegt noch nicht vor, Frist des § 152 Abs. 1 S. 3 erreicht, keine fehlende Mitwirkung |
Sonderkündigungsschutz gem. § 173 Abs. 3 Alt. 2 SGB IX (Behandlung wie neuer Antrag) |
Antrag gestellt, Bescheid liegt noch nicht vor, Frist des § 152 Abs. 1 S. 3 noch nicht erreicht |
Kein Sonderkündigungsschutz, § 173 Abs. 3 Alt. 2 SGB IX... |