Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 26
Durch die Erbrechtsreform wurde der Kreis derjenigen Personen erweitert, denen gegenüber ein entsprechendes Fehlverhalten des Pflichtteilsberechtigten zur Pflichtteilsentziehung berechtigt. In den Fällen des § 2333 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB kann daher seither auch wegen einer entsprechenden Tat der Pflichtteil entzogen werden, wenn sich diese gegen den Erblasser, dessen Ehegatten, einen Abkömmling oder eine dem Erblasser ähnlich nahestehende Person richtet. Durch die Erweiterung derjenigen Personen, die in den Schutzbereich des Pflichtteilsentziehungsrechts einbezogen werden, hat der Gesetzgeber auf die in der Literatur diesbezüglich geäußerte Kritik reagiert. Denn nach der vormaligen Rechtslage berechtigte zwar ein Mordversuch gegen den Ehegatten des Erblassers zur Pflichtteilsentziehung, nicht aber ein solcher gegen dessen nichteheliche Lebensgefährtin. Dies wurde vielfach als nicht mehr der Lebenswirklichkeit entsprechend angesehen.
Rz. 27
§ 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB bestimmt allerdings nicht ausdrücklich, welche Personen als dem Erblasser "ähnlich nahe stehend" anzusehen sind. Aus der Gesetzessystematik ergibt sich jedoch, dass in den Schutzbereich des Pflichtteilsentziehungsrechts bei den genannten Entziehungsgründen auch die Personen einbezogen sein sollen, deren Verletzung den Erblasser in gleicher Weise wie ein Angriff gegen die bereits früher einbezogenen Ehegatten, eingetragene Lebenspartner oder Abkömmlinge trifft. Neben den Stief- und Pflegekindern nennt die amtliche Gesetzesbegründung exemplarisch zur Bestimmung des Kriteriums der erforderlichen "persönlichen Nähe" die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft und andere Personen, die mit ihm auf andere Weise eng verbunden sind. Man wird daher dieses Näheverhältnis in jedem Einzelfall feststellen müssen. Dementsprechend ist auch zu beurteilen, ob etwa das Kind des Freundes bzw. der Freundin hierzu zählt. Je nach den Umständen des Einzelfalles kann dies der Fall sein, und zwar auch dann, wenn es sich um Kinder eines nichtehelichen Lebensgefährten aus einer früheren Beziehung handelt. Abzulehnen ist jedoch, in jedem Fall die Kinder des Lebensgefährten zum geschützten Personenkreis zu zählen, auch wenn keine besonderen Nähebeziehung vorlag; denn abzustellen ist immer auf die Besonderheiten des Einzelfalles. Als Indiz für die erforderliche Nähebeziehung kann auf die Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Haushalt abgestellt werden. Wie jedoch das Beispiel der Stief- und Pflegekinder zeigt, muss aber eine solche nicht unbedingt immer vorliegen, da diese gerade im Erbfall nicht mehr zum Haushalt gehören müssen. Bei Verfehlungen gegenüber dem Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft galt das Entziehungsrecht bereits nach früherem Recht (§ 10 Abs. 6 S. 2 LPartG). Die besondere Nähebeziehung zum Erblasser muss allerdings nur zum Zeitpunkt des Fehlverhaltens des Pflichtteilsberechtigten bestanden haben, damit der Entziehungsgrund eingreift. Wird die besondere Nähebeziehung später beendet, so entfällt damit eine bereits bestehende Entziehungsmöglichkeit nicht mehr. Umgekehrt besteht keine Entziehungsmöglichkeit, wenn der Erblasser erst im Anschluss an die Tathandlung des Pflichtteilsberechtigten ein entsprechendes Näheverhältnis zu dem Opfer der Tathandlung begründet.
Rz. 28
Ob Stiefeltern, die eigenen Eltern, die Eltern des Lebensgefährten des Erblassers oder entferntere eigene Verwandten desselben ebenfalls zu dem geschützten Personenkreis zählen, ist streitig. Zwar wird eingeräumt, dass hinsichtlich dieser Personen das an sich erforderliche Näheverhältnis grundsätzlich vorliegt. Andererseits sei es aber nicht Ziel des Reformgesetzgebers gewesen, auch diesen Personenkreis in den Schutz des Pflichtteilsentziehungsrechts einzubeziehen. Denn es würde sich in diesen Fällen keinesfalls um eine der Partnerschaft oder Nachkommenschaft ähnliches Verhältnis handeln. Auch könne diesbezüglich gerade nicht von gewandelten familiären Strukturen gesprochen werden, die Anlass für die Erweiterung des geschützten Personenkreises durch die Erbrechtsreform waren. Auch ein Gegenschluss aus § 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB wird gezogen: wenn dort ausdrücklich die Abkömmlinge des Erblassers in den Schutzbereich des Pflichtteilsentziehungsrechts einbezogen werden, und diese Aufzählung nach allgemeiner Meinung abschließend ist, spreche dies gerade dafür, dass andere Verwandte des Erblassers nicht ohne Weiteres in diesen Kreis einbezogen werden können. Letztlich läuft diese Ansicht auf eine teleologische Reduktion hinaus, die sich auf den entsprechenden Normzweck beruft. Vor diesem Hintergrund ist von einer möglichst weiten Auslegung des Kreises der Personen auszugehen, die dem Erblasser nahestehen und daher in den Schutzbereich des Pflichtteilsentziehungsrechts zu integrieren sind. Die Gegenansicht zieht demgegenüber diesen Kreis zu eng und verkennt, dass primäres Ziel der Erbrechtsreform die Stärkung der Testierfreiheit des Erblassers war und die ...