Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 47
Für die Pflichtteilsentziehung ist zum einen erforderlich, dass der betreffende Pflichtteilsberechtigte wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung rechtskräftig verurteilt wurde oder wird. Auch eine Jugendstrafe kann nach Sinn und Zweck eine Freiheitsstrafe sein, obwohl § 17 Abs. 1 JGG von "Freiheitsentzug" spricht. Das Merkmal soll die Rechtssicherheit für alle Beteiligten erhöhen. Zugleich wird mit der Strafbarkeit auf ein bestimmtes ethisch-moralisches Unwerturteil über das kriminelle Verhalten des Pflichtteilsberechtigten abgestellt, das auf einer entsprechenden Wertentscheidung des Gesetzgebers beruht. Dass die Pflichtteilsentziehung aufgrund einer Straftat möglich ist, ist nichts Neues, wie die vormaligen Entziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 bis 3 BGB a.F. zeigen. Jedoch war dies nach früherem Recht nur bei bestimmten Verhalten möglich, weshalb der Gesetzgeber davon sprach, dass "nach heutigem Wertverständnis eine Schieflage bestehe", die beseitigt werden sollte. Dabei wurde bewusst nicht an den Begriff des Verbrechens angeknüpft, um damit vor allem schwere Vergehen aus dem Sexualstrafrecht erfassen zu können. Andererseits rechtfertigt nicht jede Straftat die Entziehung des Pflichtteils. Vielmehr muss es sich um Straftaten handeln, die von erheblichem Gewicht sind und deshalb ein besonders schweres sozialwidriges Fehlverhalten darstellen. Davon ist aber auszugehen, wenn der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung rechtskräftig verurteilt ist.
Rz. 48
Auf eine rechtskräftige Verurteilung stellt der Gesetzgeber auch deshalb ab, weil damit eine Objektivierbarkeit und leichtere Nachprüfbarkeit verbunden sind. Zugleich erfolgt dadurch auch eine gewisse Bindung der Zivilgerichte an die strafrechtliche Entscheidung. Auch wenn das Verfahren erst nach dem Erbfall rechtskräftig abgeschlossen ist, kann die Entziehung wirksam angeordnet werden. Dies ergibt sich aus der Verwendung des Wortes "wird" in § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB (siehe auch Rdn 72). Allerdings führt das Erfordernis der strafrechtlichen Verurteilung dazu, dass der Erblasser oftmals, insbesondere bei Antragsdelikten, gezwungen ist, gegen seine nächsten Angehörigen Strafanzeige zu stellen, um die Pflichtteilsentziehung verwirklichen zu können.
Rz. 49
Praktische Probleme entstehen auch, wenn bei Eintritt des Erbfalls die entsprechende Rechtskraft der strafrechtlichen Verurteilung noch nicht eingetreten ist. Wie diese Fälle zu lösen sind, ist umstritten:
Rz. 50
(1) Die eine Auffassung stellt die strafrechtliche Unschuldsvermutung in den Vordergrund: Bis zur Rechtskraft gelte der Betreffende als noch pflichtteilsberechtigt. Er kann demnach zunächst den Pflichtteil fordern und muss ihn erst später nach seiner entsprechenden rechtskräftigen Verurteilung zurückerstatten. Damit trägt allerdings der Erbe das Insolvenz- und Rückzahlungsrisiko, so dass er u.U. später seinen Rückzahlungsanspruch nicht mehr realisieren kann.
(2) Daher will eine andere Auffassung, dass der Zivilrichter in dem Pflichtteilsprozess ein "hypothetisches Strafurteil" bildet, ob ein Pflichtteilsentziehungsgrund vorliegt und dementsprechend entscheidet.
(3) Eine andere Ansicht sucht eine sachgerechte Lösung mit Hilfe des Prozessrechts: Bei einer Anhängigkeit eines Strafverfahrens gegen den Pflichtteilsberechtigten soll der Zivilprozess über den Pflichtteilsanspruch nach § 149 ZPO ausgesetzt werden. Dies führt zu einer in zeitlicher Hinsicht differenzierten Problemlösung: Ist noch kein Strafverfahren anhängig, so müsse zwar im Zivilprozess der Pflichtteilsanspruch zugesprochen werden. Eine spätere rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten könne dann aber in der Berufungsinstanz noch vorgetragen werden, solange das Zivilurteil noch nicht in entsprechende Rechtrechtskraft erwachsen ist. Sei dies bereits der Fall, so könnten sich die Erben gegen das Zivilurteil mit der Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO zur Wehr setzen. Eine Präklusionswirkung nach den §§ 529 ff. ZPO oder nach § 767 Abs. 2 ZPO werde regelmäßig nicht eintreten, da die Verurteilung eine neue und damit wiederum berücksichtigungsfähige Tatsache darstelle. Sei der Pflichtteil bereits ausgezahlt worden, so könnten die Erben nach der entsprechenden rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten einen Rückforderungsanspruch nach § 812 Abs. 1 S. 2 1. Alt. BGB geltend machen. Diese Ansicht hat den Nachteil, dass bei dieser Fallkonstellation der Erbe ebenfalls wieder mit dem Risiko der Zahlungsunfähigkeit des vermeintlich Pflichtteilsberechtigten belastet ist.
Rz. 51
Daher findet sich eine weitere, modifizierende Auffassung, die hieran ansetzt. Sie will § 149 ZPO entsprechend anwenden und dadurch eine Aussetzung des Zivilprozesses bereits dann erreichen, wenn ein Strafverfahren noch nicht anhängig ist. Eine solche analoge An...