Rz. 61

Da nach der Gesetzesbegründung auf die Sicht des Erblassers abzustellen und an seine Wertvorstellungen anzuknüpfen ist, wird es für ihn allenfalls einen geringen Unterschied machen, ob der Pflichtteilsberechtigte die Tat im Zustand der Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit begangen hat. Auch bei Gesetzesübertretungen von Personen, die nicht schuldhaft im strafrechtlichen Sinne handeln können, wie etwa bei psychisch Kranken, kann es daher nach Auffassung des Gesetzgebers für den Erblasser aufgrund seiner eigenen Wertvorstellungen unerträglich sein, wenn er diesen einen Pflichtteil überlassen müsste. Genannt wird hier als Beispiel, dass der schuldunfähige Pflichtteilsberechtigte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird.[176] Daher soll der Erblasser die Möglichkeit haben, den Pflichtteil auch dann zu entziehen, wenn eine rechtskräftige Verurteilung des Berechtigten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung nur deshalb nicht möglich war, weil er schuldunfähig war und daher seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt rechtskräftig angeordnet wird.

 

Rz. 62

Dies ist nach Auffassung des Reformgesetzgebers auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 sachgerecht (siehe dazu Rdn 45). Dort hatte das BVerfG zwar am Verschuldenserfordernis für den Entziehungsgrund des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB a.F. ausdrücklich festgehalten. Es hatte aber die Auslegung der Zivilgerichte, die sich bis dahin an den strafrechtlichen Vorgaben des Verschuldenserfordernisses orientiert hatten,[177] für nicht verfassungsgemäß erklärt.[178] Seiner Meinung nach genügt bereits die Feststellung, dass der Pflichtteilsberechtigte einen Entziehungsgrund mit "natürlichem Vorsatz" verwirklicht habe. Wenn nämlich das Verschulden strikt im strafrechtlichen Sinne verstanden werde, könne dies im Einzelfall dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs der gegenüberstehenden Grundrechtspositionen widersprechen.[179] § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB ist aber auch aus anderen Gründen in doppelter Hinsicht problematisch: Zum einen stellt sich die Frage, ob wegen der ausdrücklichen Regelung des Falles der Schuldunfähigkeit nur für den Entziehungsgrund nach Nr. 4 bei den anderen Entziehungsgründen eine Schuldfähigkeit erforderlich ist. Dies wird man aber zu verneinen haben.[180] Zum anderen fordert § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB, dass die Unterbringung des Pflichtteilsberechtigten wegen einer "ähnlich schwerwiegenden vorsätzlichen Tat" angeordnet wird. Wenn daher kein Strafurteil, sondern nur eine entsprechende Unterbringungsentscheidung vorliegt, muss der Zivilrichter im Pflichtteilsprozess gleichsam eine "hypothetische Strafe für den Pflichtteilsberechtigten" bilden, um den Prozess entscheiden zu können.[181] Inwieweit diese Grundsätze auch bei den anderen Pflichtteilsentziehungsentziehungsgründen gelten, ist noch nicht abschließend geklärt (näher dazu Rdn 63 ff.).

[176] BT-Drucks 16/8954, S. 24.
[177] OLG Düsseldorf NJW 1968, 944; OLG Hamburg 1988, 977; KG OLGRspr. 21, 344, 345; Soergel/Dieckmann, Vor § 2333 Rn 6.
[178] BVerfGE 112, 332 = ZErb 2005, 169 m. Anm. Lange, S. 205. So zuvor bereits Herzog, Pflichtteilsentziehung, S. 13 und 349; Herzog, FF 2003, 19, 22; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 37 XIII 2 a Fn 665.
[179] BVerfGE 112, 332 (Tz 92 f.).
[180] So wohl auch Muscheler, ZEV 2008, 105, 106; in diese Richtung auch Arnhold, Hereditare 1, (2011), 37, 49 f., der mit zunehmender Schwere der Tat die Anforderungen an die Schuldfähigkeit im Rahmen von Nr. 2 abschwächen will.
[181] Zutreffend Muscheler, ZEV 2008, 105, 106; MüKo-BGB/Lange, § 2333 Rn 43.

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