Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 33
In § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB wurden gleichsam die vormaligen in Nr. 2 und Nr. 3 enthaltenen Pflichtteilsentziehungsgründe zusammengefasst und modifiziert. Früher konnte der Pflichtteil bei einer vorsätzlichen körperlichen Misshandlung (Nr. 2 a.F.) oder in den Fällen entzogen werden, in denen sich der Abkömmling eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen den Erblasser oder dessen Ehegatten schuldig gemacht hatte (Nr. 3 a.F.). Heute verlangt die Regelung, dass der Pflichtteilsberechtigte sich eines Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB) oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens (§ 12 Abs. 2 StGB) schuldig gemacht hat. Damit konnte der damalige Pflichtteilsentziehungsgrund der vorsätzlichen körperlichen Misshandlung mangels eigenständigen Anwendungsbereichs entfallen. Denn bereits nach dem früheren Recht reichte nicht jede vorsätzliche Körperverletzung für eine Entziehung aus; vielmehr musste sich nach der Rspr. in der Körperverletzung eine schwere "Pietätsverletzung" gegenüber dem Erblasser dokumentieren (siehe Rdn 34 ff.). Nach der amtlichen Gesetzesbegründung bestand daher zu den in § 2333 Nr. 3 BGB a.F. geregelten schweren vorsätzlichen Vergehen kein Unterschied mehr, der die Beibehaltung als selbstständigen Entziehungsgrund gerechtfertigt hätte.
Rz. 34
Damit ist aber zugleich die Frage aufgeworfen, ob auch heute das Vorliegen einer solchen "Pietätsverletzung" erforderlich ist. Zum früheren Recht verlangten die Rspr. und h.M., dass die zur Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 2 BGB a.F. berechtigende Misshandlung mit Rücksicht auf das Gewicht der übrigen Entziehungsgründe eine schwere Pietätsverletzung darstellen musste. Sie hatte sich aufgrund der Umstände des Einzelfalles als nicht mehr hinzunehmende Verletzung der dem Erblasser geschuldeten Achtung zu erweisen und die Pflichtteilsentziehung als angemessene Reaktion zu rechtfertigen. Nach der amtlichen Begründung wollte der Gesetzgeber diese Judikatur beibehalten und ging davon aus, dass mit der Reform keine inhaltliche Veränderung verbunden ist. Im Gesetz wurde dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass nach wie vor ein "schweres" Vergehen verlangt wird. Ob ein solches vorliegt, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalles. Im Hinblick auf die anderen Entziehungsgründe, insbesondere auch im Kontext mit dem damals neu geschaffenen Entziehungsgrund der Nr. 4, wird es sich aber um ein Vergehen mit erheblichem Unwertgehalt handeln müssen.
Rz. 35
Das von der Rspr. entwickelte Merkmal der "schweren Pietätsverletzung" war und ist nicht unumstritten. Nach Ansicht des BGH muss sich die fragliche Misshandlung aufgrund der Umstände des Einzelfalles als nicht mehr hinzunehmende Verletzung der dem Erblasser geschuldeten Achtung darstellen und die Pflichtteilsentziehung als angemessene Reaktion auf diese Misshandlung rechtfertigen. Auch wenn diese einschränkende Auslegung schon früher verfassungsrechtlich, nämlich mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, begründet wurde, weil durch die Pflichtteilsentziehung in das zumindest teilweise verfassungsrechtlich gewährleistete Pflichtteilsrecht eingegriffen wird, ergab sich durch die Grundsatzentscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 eine erhebliche Akzentverschiebung. Denn im Rahmen der Prüfung der Wirksamkeit einer Pflichtteilsentziehung ist eine Abwägung zwischen den widerstreitenden grundrechtlichen Schutzgütern, nämlich der Testierfreiheit des Erblassers einerseits und dem Pflichtteilsrecht andererseits, vorzunehmen. Dabei muss das Grundrecht der Testierfreiheit stärker als früher beachtet werden, wie das BVerfG ausdrücklich in dem Verfahren Az. 1 BvR 1644/00 feststellte, in dem es um das Erfordernis der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinn ging. Dies musste zu einer Neubestimmung der "Zumutbarkeitsgrenze" führen, ab deren Verletzung dem Erblasser die durch das Pflichtteilsrecht vermittelte Nachlassteilhabe seines Kindes nicht mehr zugemutet werden kann. Wo zivilrechtlich-dogmatisch diese Überlegungen zu verankern sind, musste das BVerfG nicht entscheiden. Es hielt jedoch das "ungeschriebene Tatbestandsmerkmal" des "schuldhaften Verhaltens des Pflichtteilsberechtigten" als "grundsätzlich aussagekräftiges und geeignetes Abgrenzungskriterium". Auf das ebenfalls im Gesetz nicht normierte Erfordernis der Pietätsverletzung kann daher verzichtet werden, verstellt es doch die eigentlich vorzunehmenden Abwägungskriterien.
Rz. 36
Eines der umstrittensten Probleme des früheren Pflichtteilsentziehungsrechts war, ob seelische Misshandlungen zur Pflichtteilsentziehung berechtigten. Nach h.M. war dies nur dann möglich, wenn durch sie auf die körperliche Gesundheit des Erblassers eingewirkt wurde. Diese Auffassung entsprach dem alten Gesetzeswortlaut, der nur körperliche Misshandlungen erwähnte. Dies wurde zunehmend kritisiert, weil seelische Misshandlungen ähnlich schwer wiegen können wie Körperverletzungen.
Rz. 37
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