Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 61
Die Pflichtteilsentziehung setzt bei allen Entziehungsgründen ein Verschulden des Pflichtteilsberechtigten voraus. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 ist dieses, entgegen der früheren Auffassung der Zivilgerichte, bei dem Entziehungsgrund nach § 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB aber nicht im strafrechtlichen Sinne zu verstehen, sondern es genügt, dass der objektive Unrechtstatbestand "wissentlich und willentlich" verwirklicht wird. Demnach ist die Feststellung ausreichend, dass der Pflichtteilsberechtigte einen Entziehungsgrund mit "natürlichem Vorsatz" verwirklicht hat. Denn wenn das Verschulden zu sehr im strafrechtlichen Sinne verstanden werde, könne dies "im Einzelfall dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs der gegenüberstehenden Grundrechtspositionen widersprechen." Nicht entschieden hat das Gericht, ob dies auch bei den anderen Pflichtteilsentziehungsgründen gilt. Da jedoch dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Ansatzpunkt dafür ist, die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen der Testierfreiheit und dem Pflichtteilsrecht vorzunehmen, ist dies zu bejahen. Der Gesetzgeber wollte den Vorgaben des BVerfG dadurch Rechnung tragen, dass eine Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BGB auch dann möglich ist, wenn die Unterbringung des Pflichtteilsberechtigten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt rechtskräftig angeordnet ist, und zwar wegen einer ähnlich schwerwiegenden vorsätzlichen Tat wie bei einem schuldfähigen Pflichtteilsberechtigten. Bei diesem ist eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung erforderlich und weiter, dass die Teilhabe des Pflichtteilsberechtigten am Nachlass für den Erblasser unzumutbar sein muss. Unklar bleibt aber damit, ob bei den anderen Entziehungsgründen ebenfalls eine entsprechende Unterbringung genügt, aber auch erforderlich ist. Man darf jedoch aus dieser ausdrücklichen gesetzlichen Normierung nur für diesen Entziehungsgrund nicht einen Gegenschluss ziehen. Denn würde bei den anderen Entziehungsfällen die Schuldfähigkeit im eigentlichen Sinn verlangt, widerspräche dies gerade der Entscheidung des BVerfG.
Rz. 62
Ein Verschulden im strafrechtlichen Sinne ist daher bei allen Entziehungsgründen genügend, eine Unterbringung i.S.v. § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB jedoch nicht immer erforderlich. Zumindest bei dem Pflichtteilsentziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB genügt nach wie vor der "natürliche Vorsatz" i.S.d. Rspr. des BVerfG, da das Gericht gerade zu diesem Entziehungsgrund so entschieden hat und der Reformgesetzgeber hieran erklärtermaßen nichts ändern wollte.
Rz. 63
Ob dies auch für den Pflichtteilsentziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB gilt, ist jedoch nicht unumstritten. Allerdings wird überwiegend bejaht, dass bereits ein Vorsatz im natürlichen Sinne genüge. Dagegen könnte sprechen, dass es hierzu im Gesetz ausdrücklich heißt, dass sich die betreffende Person eines "Verbrechens oder schweren vorsätzlichen Vergehens schuldig machen muss". Daraus folgert die Gegenauffassung, dass grundsätzlich ein Verschulden im strafrechtlichen Sinn bei diesem Pflichtteilsentziehungsgrund vorliegen muss. Dies würde jedoch im Einzelfall nicht hindern, im Wege einer verfassungskonformen Auslegung auch dann das Eingreifen dieses Pflichtteilsentziehungsgrundes dann zu bejahen, wenn die Tat zwar in einem schuldunfähigen Zustand begangen wird, der Betreffende aber zumindest mit natürlichem Vorsatz gehandelt hat und die Schwere der Tat eine Nachlassteilhabe unzumutbar erscheinen lässt.
Als Beispiel wird hierfür etwa genannt, dass eine besonders schwerwiegende Körperverletzung vorliegt, die zum Tod des Erblassers führt, ohne dass sich der natürliche Vorsatz auch auf die Todesfolge bezieht. Dann würde deshalb ein Entziehungsgrund nach § 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB ausscheiden, aber angesichts der Schwere der Tat erscheine es notwendig, dass wenigstens der Entziehungsgrund nach § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB eingreife. Die vom BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung diesbezüglich gemachten Ausführungen sind insoweit nicht eindeutig. In der Rechtspraxis dürften beide Auffassungen häufig zum gleichen Ergebnis gelangen. Die Auffassung, die grundsätzlich eine Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Sinne verlangt, erfordert dabei jedoch einen größeren Begründungs- und Argumentationsaufwand. Sie hat jedoch für sich, dass der Rechtsanwender dadurch gezwungen wird, die Besonderheiten des Einzelfalles noch stärker herauszuarbeiten und zu berücksichtigen. Dadurch wird noch einmal deutlich, dass es eines besonderen Grundes bedarf, in das verfassungsrechtlich geschützte Pflichtteilsrecht einzugreifen. Insoweit handelt es sich daher um die verfassungsnähere Lösung.
Rz. 64
Bezüglich des Pflichtteilsentziehungsgrundes des § 2333 Abs. 1 Nr. 3 BGB ist zu berücksichtigen, dass es insoweit allein darauf ankommt, das...