Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 95
Auch wenn die Änderung des Rechts der Pflichtteilsentziehung im Allgemeinen begrüßt wurde, herrschte bereits in den ersten Veröffentlichungen hierzu doch weitgehende Übereinstimmung darin, dass es auch nach neuem Recht nur selten zu berechtigten Pflichtteilsentziehungen kommen würde. Denn die früheren, nur in wenigen Einzelfällen eingreifenden Entziehungsgründe wurden lediglich moderat überarbeitet. Diese Erwartungen haben sich bewahrheitet. Eine wesentliche Stärkung der Testierfreiheit des Erblassers ist nicht eingetreten.
Rz. 96
Missverständlich ist, dass nur bei dem Entziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB ausdrücklich geregelt wurde, dass eine Schuldunfähigkeit des Pflichtteilsberechtigten der Wirksamkeit der Pflichtteilsentziehung nicht entgegensteht. Dies könnte zu der unzutreffenden Annahme verleiten, es handele sich um eine Ausnahme mit der Folge, dass bei den anderen Entziehungsgründen allein die strafrechtlichen Vorgaben des Verschuldenserfordernisses gelten sollen, was verfassungsrechtlich nicht haltbar wäre.
Rz. 97
Zudem bleiben die Wertungswidersprüche zwischen der an der Pflichtteilshöhe orientierten Haftung der Erben für den Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten nach § 1586b BGB und dem Pflichtteilsrecht: Entzog ein Erblasser während des Bestehens der Ehe seinem Ehegatten zu Recht den Pflichtteil, so besteht kein gegen seinen Nachlass gerichteter nachehelicher Unterhaltsanspruch mehr. Hat er dies versäumt, so ist nach der Scheidung eine Nachholung der Pflichtteilsentziehung nicht mehr möglich. Inwieweit ein solcher Unterhaltanspruch dann ausgeschlossen oder eingeschränkt ist, bestimmt sich dann allein nach unterhaltsrechtlichen Kriterien, insbesondere nach § 1579 BGB. Dies umfasst eine umfassende Interessenabwägung, einschließlich der Berücksichtigung des Wohls der betreuten Kinder (siehe Rdn 24).
Rz. 98
Zu berücksichtigen ist auch, dass die Pflichtteilsentziehungsmöglichkeiten nach § 2333 Nr. 5 BGB a.F. wegen eines unsittlichen und ehrlosen Lebenswandels weitreichender waren als diejenigen nach § 2333 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BGB. Das geltende Recht ist aber bereits auf alle Erbfälle anzuwenden, die ab dem 1.1.2010 eintreten, und zwar unabhängig davon, ob der die Pflichtteilsentziehung begründende Tatbestand und/oder die Entziehungsverfügung früher verwirklicht wurden (Art. 229 § 23 Abs. 4 EGBGB). Eine Umdeutung einer nach früherem Recht getroffenen Pflichtteilsentziehung in den neuen Entziehungsgrund nach § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB scheitert zudem i.d.R. bereits an den hohen formalen Anforderungen, die das Gesetz hieran stellt (§ 2336 Abs. 2 S. 2 BGB).
Praxishinweis für Altfälle
Bei bereits erfolgten Pflichtteilsentziehungen ist eine Überprüfung erforderlich, ob diese den neuen Rechtsanforderungen standhalten. Ein Notar ist allerdings nicht gehalten, von sich aus alle seine Altfälle durchzusehen. Eine solche Verpflichtung ergibt sich auch nicht aus der allgemeinen Betreuungspflicht nach § 14 BnotO.
Rz. 99
Dass das Pflichtteilsentziehungsrecht nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen führt, zeigt das folgende Beispiel.
Beispiel: Der "Stasi-Fall"
Diplom-Ingenieur H lebte in der ehemaligen DDR. Da sein Halbbruder in der Bundesrepublik Deutschland wohnte, von dort regelmäßige Besuche sowie Warensendungen erfolgten und auch seine Eltern als Rentner im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen sehr häufig im Westen weilten, galt er in der DDR ohnehin nicht als sehr "linientreu". Sein berufliches Fortkommen gestaltete sich als sehr schwierig. Nach einem familiären Streit denunzierte ihn seine eigene Tochter mit zum Teil unwahren Behauptungen bei der Stasi. Daraufhin war er zahlreichen Repressionen seitens des DDR-Regimes ausgesetzt. Ein berufliches Fortkommen war trotz guter fachlicher Kenntnisse praktisch nicht mehr möglich. Nach der "Wende", als H zu etwas Geld kam, erkundigt er sich, ob er seine Tochter im Hinblick auf diese Vorkommnisse enterben und ihr den Pflichtteil entziehen könnte. – Frage: Wo liegt die "erbrechtliche Schmerzgrenze", ab der man den Pflichtteil entziehen kann?
Rz. 100
Nach dem geltenden Pflichtteilsentziehungsrecht könnte keine wirksame Entziehung erfolgen. Das Verhalten der Tochter war nach dem Recht der DDR gerade nicht strafbar. Nach der "Wende" scheiterte eine Bestrafung i.S.d. § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB bereits daran, dass eine etwa begangene Straftat verjährt war. Dennoch erscheint es mit den Vorgaben des BVerfG nicht vereinbar, wenn die Tochter einen Pflichtteilsanspruch hätte. Dies zeigt folgende Überlegung:
Rz. 101
Da die Pflichtteilsentziehungsgründe dem grundsätzlich zwingenden Pflichtteilsrecht Grenzen setzen, geht es hier um die Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen der Testierfreiheit des Erblassers und dem Recht des Pflichtteilsberechtigten an einer legitimen Teilhabe am Nachlass, und zwar auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben im Spannungsfeld des Art. 14 GG und Art. 6 GG. Hierzu hat das BVerfG zwar mittlerweile ...