Dr. iur. Nikolas Hölscher
A. Pflichtteilsunwürdigkeit
I. Pflichtteilsunwürdigkeit und Pflichtteilsentziehung
Rz. 1
Das Pflichtteilsrecht ist zwingendes Recht und steht grundsätzlich nicht zur Disposition des Erblassers. Ausnahmsweise entfällt es bei besonders schweren Verfehlungen des Pflichtteilsberechtigten, die dieser gegenüber dem Erblasser, dessen Ehegatten, gleichgeschlechtlichen Lebenspartner oder Abkömmlingen begangen hat. Dies kann kraft Gesetzes bei Vorliegen einer Pflichtteilsunwürdigkeit gem. § 2345 Abs. 2 BGB geschehen. Oder es besteht bei Vorliegen der allerdings sehr engen Voraussetzungen zumindest die Möglichkeit der Pflichtteilsentziehung nach den §§ 2333 ff. BGB durch eine Erklärung in der Verfügung von Todes wegen. Jedoch sind die vom Gesetz hierfür vorgesehenen Tatbestände abschließend und keiner Analogie zugänglich. Angesichts der weit reichenden Folgen des Pflichtteilsrechts und der wenig präzisen Formulierung der Pflichtteilsentziehungsgründe wird dies zunehmend als unbillig empfunden, ja es wurden auch vermehrt verfassungsrechtliche Bedenken gegen die gesetzliche Regelung vorgebracht. Der Gesetzgeber hat dem durch die Neufassung der Pflichtteilsentziehungsgründe durch das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts vom 24.9.2009 Rechnung getragen (eingehend siehe Rdn 21 ff.). Von diesen gesetzgeberischen Änderungen blieben aber die Bestimmungen zur Erb- und Pflichtteilsunwürdigkeit unberührt. Überhaupt ist festzustellen, dass im Gegensatz zum Pflichtteilsrecht eine aktuelle rechtspolitische und verfassungsrechtliche Diskussion der Erb- und Pflichtteilsunwürdigkeit überhaupt nicht stattgefunden hat.
Rz. 2
Die Bestimmungen über die Pflichtteilsunwürdigkeit stellen eine Ergänzung zu den Vorschriften zur Pflichtteilsentziehung dar, wobei die letztgenannte Maßnahme die mildere ist. Nach Zielrichtung, Inhalt und Ausgestaltung unterscheiden sie sich jedoch erheblich, überschneiden sich aber auch teilweise:
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Die Gründe für die Pflichtteilsentziehung richten sich gegen die Person des Erblassers oder seine nächste Familie (Ehegatte, Abkömmlinge), die für die Erb- und Pflichtteilsunwürdigkeit beruhen auf Handlungen gegen die Testierfreiheit des Erblassers. |
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Die Pflichtteilsentziehung ist "in die Hand des Erblassers gelegt", da es einer entsprechenden Verfügung von ihm bedarf (§ 2336 BGB), demgegenüber entscheiden über die Geltendmachung der Erb- und Pflichtteilsunwürdigkeit die nach § 2341 BGB zur Anfechtung Berechtigten, wenn nicht eine Verzeihung durch den Erblasser (§ 2343 BGB) erfolgte. |
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Die Pflichtteilsentziehung betrifft zunächst nur den Pflichtteil, kann allerdings auch schlüssig eine Enterbung (§ 1938 BGB) enthalten; demgegenüber beseitigt die erfolgreiche Anfechtung wegen Unwürdigkeit den Erb- und Pflichtteil (§§ 2342, 2344, 2345 Abs. 2 BGB). |
Rz. 3
Hinsichtlich der Durchsetzung besteht zwischen Pflichtteilsunwürdigkeit und Pflichtteilsentziehung ein bedeutsamer Unterschied: Die Pflichtteilsentziehung muss noch vom Erblasser selbst in einer letztwilligen Verfügung erklärt werden (§ 2336 BGB). Die Pflichtteilsunwürdigkeit ist demgegenüber vom Erben oder demjenigen, dem der Wegfall des Pflichtteilsberechtigten zugutekäme (§ 2341 BGB), nach dem Tod des Erblassers im Wege der Anfechtung, nicht aber durch besondere Anfechtungsklage, fristgebunden geltend zu machen (§ 2345 Abs. 2 BGB).
Rz. 4
Praxishinweis
In der Praxis ist die Pflichtteilsentziehung wesentlich häufiger als die Pflichtteilsunwürdigkeit.
II. Gründe der Pflichtteilsunwürdigkeit
1. Allgemeines
Rz. 5
Hinsichtlich der Gründe für die Pflichtteilsunwürdigkeit verweist § 2345 BGB auf die in § 2339 BGB genannten Erbunwürdigkeitsgründe. Demnach gilt: Wer erbunwürdig ist, ist auch pflichtteilsunwürdig. Das Gesetz unterscheidet dabei in § 2339 Abs. 1 BGB vier Tatbestände für die Erb- und Pflichtteilsunwürdigkeit, die eine abschließende Regelung darstellen:
2. Tötung des Erblassers, Herbeiführung der Testierunfähigkeit (§ 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB)
Rz. 6
Erb- und pflichtteilsunwürdig ist, wer den Erblasser vorsätzlich und widerrechtlich getötet oder zu töten versucht oder in einen Zustand versetzt hat, infolgedessen der Erblasser bis zu seinem Tode unfähig war, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder aufzuheben (§ 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Die Tötung des Vorerben durch den Nacherben ist kein Fall des § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB, weil der Vorerbe im Verhältnis zum Nacherben nicht Erblasser ist. Allerdings ist in diesem Fall § 162 Abs. 2 BGB einschlägig.
Umfasst werden durch § 2339 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BGB die Straftatbestände der §§ 211, 212 StGB (Mord, Totschlag), einschließlich des Versuchs (§§ 22, 23 StGB), sowie alle Arten der Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe, Mittäterschaft); auch ein minder schwerer Fall (§ 213 StGB) ist ausreichend, nicht aber das Töten auf Verlangen (§ 216 StGB) oder die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB). Die Mitw...